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WÜRZBURG
Die Luther-Intrige
Martin Luther und sein Thesenanschlag waren Rädchen in einer politischen Verschwörung, sagt Joachim Köhler. Der aus Unterfranken stammende Autor erklärt, wie das zugegangen sein könnte.
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:51 Uhr

Um die Mittagszeit des 31. Oktober 1517 eilt ein Mönch durch die Straßen von Wittenberg. An der Schlosskirche angekommen, hämmert er mit kleinen Nägeln ein Plakat an die nördliche Türe. 95 Thesen gegen die Ablass-Praxis stehen drauf. Es ist ein gefährliches Unterfangen: Dr. Martin Luther greift damit die allmächtige Papstkirche an und riskiert den Scheiterhaufen.

„Legende!“ rufen seit den frühen 1960er Jahren viele Kirchenhistoriker. Luther habe die Thesen gar nicht angeschlagen, sondern sie lediglich an wichtige Kirchenmänner verschickt. „Historisch korrekt“, setzt der Buchautor Joachim Köhler dagegen: „Der Thesenanschlag hat stattgefunden.“

Hat er nun oder hat er nicht? Für das Luther-Bild ist das eine entscheidende Frage. Wenn er in Wittenberg, das zum Allerheiligenfest voll von Pilgern war, seine Thesen öffentlich angeschlagen hat, war er ein Revolutionär. Hat er dagegen bloß Briefe an Vorgesetzte verschickt, war er nur ein hierarchiehöriger Kirchenmann, der seine Thesen auf den üblichen Instanzenweg schickte.

In seiner neuen Biografie des Reformators (siehe Kasten) bringt der gebürtige Unterfranke Köhler mehrere Argumente dafür, dass Martin Luther tatsächlich Nägel ins Kirchenportal trieb. Erstens, argumentiert Köhler, sei es eine „akademische Gepflogenheit gewesen“, Thesen von Disputationen an Kirchentüren zu heften. Auch das Wittenberger Portal wurde regelmäßig von Professoren wie Luther für „Posts“ genutzt. Zweitens: „Es gibt ein klares und eindeutiges schriftliches Zeugnis für den Thesenanschlag.“ Im Jahr 2007 sei eine Notiz von Luthers Assistent Georg Rörer aufgetaucht. Der bestätigte die Arbeit mit dem Hammer „im Jahr 1517, am Vortag des Allerheiligenfestes“.

Wie nahezu immer, wenn es um Religion geht, sind Ideologen und Propagandisten am Werk, die die Historie in ihrem Sinne deuten möchten. Katholische Kirchenhistoriker neigen dazu, den Thesenanschlag als legendär anzusehen. Evangelische Kollegen tendieren zur historischen Sichtweise. Joachim Köhler bezeichnet sich selbst als „Lutheraner“.

In zehn Jahren biografischer Arbeit – vor allem mit Luther-Originalmaterial – sei er dem Reformator nahegekommen und halte ihn, als Theologen, Schriftsteller und Kirchengründer, für den „größten Deutschen“.

Dennoch: Dem 1952 in Winterhausen geborenen Doktor der Philosophie darf man weitgehende Objektivität zutrauen. Mag er in puncto Thesenanschlag auf der evangelischen Linie liegen, in einem andern Punkt weicht er davon ab: Denn in Köhlers Sicht hat Luther die Thesen zwar selbst verfasst, zu deren Anschlag aber war er ermuntert, quasi nach vorne geschubst worden. So diente er als Speerspitze einer groß angelegten Intrige, hinter der vor allem politische Interessen steckten. Es wäre nicht die einzige Verknüpfung von Religion und Machtpolitik in der Geschichte.

Drahtzieher dieser Luther-Intrige war wohl Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen. Er residierte in Wittenberg, finanzierte die dortige Universität – und er hatte ein Problem: Seine Reliquiensammlung war eine der größten in der Christenheit und ein „Ablassunternehmen mit 80 Mitarbeitern“, wie Joachim Köhler es nennt. Durch Wallfahrten zu diesen Heiltümern konnten sich Gläubige Ablässe verschaffen – also unangenehme Fegefeuer-Zeit für sich und verstorbene Verwandte einsparen.

Die Pilger ließen Geld in Wittenberg und in der Schatulle des Kurfürsten. Da kam ihm die Ablasskampagne von Papst Leo X. in die Quere. Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, war Hauptprofiteur dieser Ablassbriefe, die gegen bare Münze Sündenerlass versprachen, und Johann Tetzel sein umtriebiger Handelsreisender. Wenn die Leute bei Tetzel kauften, zog das Geld aus den Taschen der Untertanen von Friedrich dem Weisen – und letztlich aus dessen eigener.

Zudem schwelte eine alte Feindschaft zwischen Wettinern (Friedrich) und Hohenzollern (Albrecht). Köhler hat „keinen Zweifel daran, dass Friedrich der Weise großes Interesse daran hatte, dem Papst und vor allem seinem Konkurrenten Albrecht das Geschäft zu verderben“. Aber wie? Offen gegen das seinerzeit de facto allmächtige Kirchenoberhaupt und seinen Kardinal vorgehen? Undenkbar. Friedrich der Weise zog lieber im Hintergrund die Fäden. Er dachte strategisch und langfristig.

Eine Idee seines Beraters Johann von Staupitz, der auch Luthers Vorgesetzter war, kam da gerade recht: Man könnte doch den Ablass in Form von Disputationsthesen angreifen und damit dem Papst und Erzbischof Albrecht eins auswischen, meinte der Augustinerobere. Der Clou: Niemand würde Friedrich damit in Verbindung bringen, weil der ja selbst in der Schlosskirche eine „Ablassmaschinerie“ betrieb. Ausgerechnet an deren Portal – ein geniales Verschleierungsmanöver – sollten die Thesen angeschlagen werden. Staupitz schickte seinen Freund und Mitbruder Luther vor. Der rannte, von seiner göttlichen Mission überzeugt, mit dem Hammer los . . .

Luther war wohl nur teilweise in die Zusammenhänge eingeweiht. „Ich bin wie ein Gaul mit Scheuklappen in die Schlacht geschickt worden“ habe der Reformator später eingeräumt, zitiert Köhler.

Eine haltlose Verschwörungstheorie? „Es gibt Zeugnisse und Indizien, dass der Thesenanschlag Teil einer Intrige war“, argumentiert der Luther-Biograf. Von protestantischen Historikern würde die Intrige oft unterdrückt: Sie schmälert ja die eigenständige Leistung des Reformators, relativiert das Epochale des Vorgangs. Freilich weiß Köhler, dass er „einen letzten Beweis“ für seine Intrigen-Theorie schuldig bleiben muss.

Ob Rädchen im Intrigengetriebe oder Einzeltäter: Dem Bergmannssohn aus Eisleben, der ursprünglich Martin Luder hieß, ist die Reformation wohl zunächst über den Kopf gewachsen. Schließlich hatte er nicht bloß einen theologischen Diskurs, sondern eine veritable Revolution losgetreten, die letztlich die Alleinherrschaft der Papstkirche brach.

Mehr noch: Mit seiner Bibelübersetzung und anderen Schriften prägte und verbreitete Martin Luther die heute „Neuhochdeutsch“ genannte Sprache – unsere Sprache! „Was Shakespeare für die Engländer ist, ist Luther für die Deutschen“, urteilt Joachim Köhler.

Der Autor und das Buch „Luther! – Biographie eines Befreiten“

Joachim Köhler wurde 1997 als scharfer Wagnerkritiker mit dem Buch „Wagners Hitler – Der Prophet und sein Vollstrecker“ bekannt. Der gebürtige Winterhäuser (Jahrgang 1952) studierte in Würzburg, wo er 1977 über Nietzsche promovierte. Zunächst Lektor im Würzburger Arena-Verlag, schrieb er als Journalist beim „Stern“ eine viel diskutierte Nietzsche-Biografie, gefolgt von mehreren kritischen Büchern über Bayreuth und Richard Wagners zweite Ehefrau Cosima. Köhlers Bücher „Zarathustras Geheimnis“ (1989) und „Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner“ (1996) wurden in sieben Sprachen übersetzt. 2013 erschien sein Buch „Der lachende Wagner“. Köhler lebt als Autor und freier Journalist in Hamburg.

Sein neues Buch „Luther!“ – Untertitel „Biographie eines Befreiten“ – ist soeben erschienen (Evangelische Verlagsanstalt, 405 Seiten, 22,90 Euro). Wissenschaftlich sauber mit akribischen Quellenangaben zeichnet Köhler das Leben des Reformators nach und legt dabei viel Wert auf psychologische und intellektuelle Vorgänge. Quasi nebenbei entfaltet sich ein Bild des geistigen und geistlichen Lebens der Luther-Zeit. „Bunte“ Äußerlichkeiten finden in dem Buch fast nicht statt. Das kann man bedauern. „Luther!“ ist dennoch angenehm zu lesen und – dank überraschender Einsichten – auch spannend. hele/Foto. Evangelische Verlagsanstalt

 
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