Viele Fans kamen nicht wegen der Lesung. Viele wollten von Konstantin Wecker einfach mal wieder dieses tröstende Lied hören: „Wenn der Sommer nicht mehr weit ist“, eine mehr als 20 Jahre alte Hymne der Hoffnung, altmodisch, barock-protzig und pathetisch wie ihr Schöpfer, aber ungemein passend zu der aufkeimenden Erwartung, dass die Pandemie endlich endet.
Kurz vor dem Auftritt Weckers beim Literaturfestival MainLit im Innenhof des Gutes Wöllried schauen noch viele Zuhörer zweifelnd auf den satten Regen. Aber dann schiebt irgendwer die fetten Regenwolken über dem Freigelände beiseite und lässt die Sonne hell in den Abend strahlen – da kommt tatsächlich Stimmung auf, wie wenn der Sommer nicht mehr weit ist.
Ein großer Schrank voller nicht immer schöner Erfahrungen
Doch das Lied muss warten. Wecker ist ja zum Lesen gekommen. Er füllt die Bühne mit seiner Präsenz, seiner Freundlichkeit und diesen altmodischen Wertvorstellungen eines 68ers mit einem großen Schrank voller Lebenserfahrungen (nicht immer schöner), die er unverblümt ehrlich präsentiert.
Mit 74 Jahren erzählt er noch immer mit kindlichem Staunen und (nicht immer leiser) Selbstironie aus seinem bunten Leben – etwa über die komischen Momente bei einem Auftritt unter Corona-Bedingungen in einem Autokino, in dem die Zuhörer nur Beifall hupen durften. Dazwischen springt er kraftvoll (und belustigt über das eigene Fabulieren) zwischen drei Büchern hin und her – und mittendrin kommt ihm eine Erinnerung.
Spontan springt er auf und sagt: "Das muss ich etwas ausführlicher erzählen!" Und dann schildert er, wie seine Eltern vor einem guten halben Jahrhundert den damals 19-Jährigen in der Untersuchungshaft besuchten, nachdem er die Wettgelder der Pferderennbahn in München geklaut hatte. Man müsse sich im Leben entscheiden, ob man Verbrecher oder Künstler werden wolle, sagte sein Vater „Zum Verbrecher taugst du jedenfalls nicht.“
Auch als "ziemlicher Depp" hat er gute Gedichte geschrieben
Vom Lob für die Eltern springt Wecker zur Geschichte seines eigenen Sohnes, der ihn wieder das kindliche Staunen lehrte – mit der einfachen Feststellung "Papa, es schneit." Beginnend bei Umberto Eco geht ein wilder Streifzug über Dostojewski bis Goethe, dessen "Faust“ ihn zu eigenem Dichten trieb. "Lieder und Gedichte sind mir passiert", bekennt er nicht ohne Koketterie. "Ich kann sie mir nicht ausdenken." Und dann mit Blick auf seine schlagzeilenträchtige Drogenphase: "Selbst in der Zeit, in der ich ein ziemlicher Depp war, habe ich gute Gedichte geschrieben."
Konstantin Wecker erntet Respekt für das Authentische, für den Mut eines 74-Jährigen zum Geständnis des eigenen Stolperns in einer Zeit, in der 20-jährige Influencer auf Instagram Rezepte zur Rettung der Welt aus dem Ärmel ihrer gesponserten Designerjacke schütteln.
Man darf stolpern und fallen, aber nicht liegenbleiben: "Ich will noch eine ganze Menge leben"
Da fliegen ihm die Herzen zu, da belohnt ihn langer zustimmender Applaus. Mehr noch, wenn er Mut macht, wenn er appelliert: Man darf stolpern und fallen, aber nicht liegenbleiben, sondern soll aufstehen, den Blick nach vorne richten und sich inbrünstig vornehmen: "Ich will noch eine ganze Menge leben."
Vom Lorbeerbaum vor seinem Fenster plaudert er und lobt die jungen Menschen von "Fridays for future". Und dazwischen – lässig dahin gestreut – singt er a cappella aus dem reichhaltigen Schatz seiner Lieder. Da kommt am Ende eines Wohlfühl-Abends das Lied doch noch, und die meisten könnten es mitsingen: "Wenn der Sommer nicht mehr weit ist."