
Sieglinde G. hatte schon ihr ganzes Leben Schwierigkeiten mit Reizüberflutung oder Spontaneität gehabt. Es fiel ihr schwer, Kontakte zu knüpfen und am sozialen Leben mit Smalltalk und vielen aus ihrer Sicht sinnlosen Oberflächlichkeiten teilzunehmen. In der Schulzeit und im Studium, das sie zeitweise in Würzburg absolvierte, kämpfte sie mit Einsamkeit und Magersucht.
Fälschlicherweise wurde bei ihr soziale Phobie diagnostiziert. Erst Ende 2020, mit 38 Jahren, erfuhr sie, was nicht stimmte: Sie leidet unter dem Asperger-Syndrom. Plötzlich wurde ihr vieles klar. Damit das auch ihren Mitmenschen so geht, hat sie ein Buch geschrieben: "Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom" (Manuela Kinzel Verlag).
Das Asperger-Syndrom ist eine Entwicklungsstörung, die dem Autismus-Spektrum zugeordnet wird. Betroffene haben Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion und Kommunikation, mit Reizverarbeitung und Reizfilterung. Dagegen helfen ritualisierte Abläufe in Freizeit und Beruf. Oft haben Betroffene außergewöhnliche Interessen und Begabungen.
Der Name der Autorin ist ein Pseudonym, denn obwohl Sieglinde G. in den 59 kurzen, prägnanten Kapiteln sehr offen und anschaulich über sich und ihre Probleme als "Aspie" schreibt, möchte sie nicht, dass ihr berufliches Umfeld ihr mit Vorurteilen begegnet. Das Buch soll denn auch Vorurteile bei "Nichtaspies" abbauen helfen und anderen Betroffenen Mut machen. Sieglinde G. zog trotz aller Hemmnisse ihr Studium durch, wurde Juristin mit Prädikatsexamen und lebt heute mit ihrem Mann in Süddeutschland. Sie spielt neben mehreren anderen Musikinstrumenten vor allem Kirchenorgel und Schlagzeug.
Frage: Fällt es Ihnen schwer, Interviews zu geben?
Sieglinde G.: Ich habe das jetzt schon ein paarmal gemacht. Wenn es nicht live im Radio ist, ist nicht so viel Anspannung dabei. Dann ist es auch nicht so schlimm, wenn man ein bisschen braucht, bis man eine Antwort findet.
In Ihrem Buch erwähnen Sie immer wieder die Denkmaschine, die in Ihrem Kopf anspringt. Können Sie beschreiben, was sie in Gang setzt und was dann passiert?
Sieglinde G.: Nichtaspies antworten auf vieles intuitiv. Wenn dagegen ich eine Frage gestellt bekomme, nehme ich sie erstmal auseinander und versuche zu eruieren, was der Fragende meint. Da gibt es dann verschiedene Möglichkeiten, mit der Antwort anzusetzen. Im Buch nenne ich als Beispiel die Frage "Wie war deine Woche?". Wenn mich das jemand mittwochs fragt und ich die Person genau vor einer Woche, am vorangegangenen Mittwoch, gesehen habe, müsste ich überlegen, ist mit "Woche" die Spanne von sieben Tagen gemeint, oder der natürliche Anfang einer Woche, den man mit Sonntag oder Montag festlegt? Der erste zu klärende Punkt wäre also: Wo fange ich an mit dem Erzählen?
Da heißt: Sprache und Kommunikation habe für Sie unendlich viel mehr Schichten?
Sieglinde G.: Das würde ich so sehen, ja.
Sie haben die Diagnose Asperger erst mit 38 bekommen. Bis dahin hatten Sie aber schon unglaublich viel erreicht. Würden Sie sich als besonders hartnäckig bezeichnen?
Sieglinde G.: Ja, ich habe schon einen gewissen Ehrgeiz. Wenn ich sehe, da kann man was erreichen, das ist nicht aussichtslos, dann gebe ich nicht so ohne Weiteres auf.
Wie hat Ihre Familie auf die Diagnose reagiert? Sagten die, das erklärt einiges, oder waren die überrascht?
Sieglinde G.: Die mussten sich auch erstmal einlesen. Asperger ist nicht jedem geläufig. Sie haben einige Biografien gelesen und gemerkt, das trifft ja auf mich zu. Die fanden es dann auch gut, dass sie jetzt wissen, wie sie manches bei mir einordnen können. Dass sie jetzt auch sehen, was für mich manchmal zu viel ist und wo ich meine Rückzugsräume brauche.
Sie spielen viele Musikinstrumente, hauptsächlich Orgel und Schlagzeug. Mir ist aufgefallen, das sind Instrumente, bei denen man viele verschiedene Bewegungen koordinieren muss. Ist das eine besondere Stärke bei Asperger, oder einfach Ihr ganz persönliches Talent?
Sieglinde G.: Das würde ich jetzt nicht auf meine Diagnose zurückführen. Orgel und Schlagzeug können ja auch Nichtaspies sehr gut und wahrscheinlich noch besser als ich spielen. Bei der Musik habe ich keine Probleme, verschiedene Sachen zu koordinieren. Aber ich weiß noch, als ich in logopädischer Behandlung war, sollte ich bestimmte motorische Bewegungen in Sprachübungen einbauen, und das ging gar nicht. Auch bei rhythmischer Gymnastik in der Schule habe ich mich sehr schwergetan.
Was ist am Schlagzeug anders?
Sieglinde G.: An dem Instrument gefällt mir, dass es logisch aufgebaut ist. Dass man verschiedene Bausteine erlernt, die man dann unterschiedlich koordinieren kann.
Sie schildern die Schwierigkeiten mit der Mehrdeutigkeit von Sprache. Ist die Musik für Sie interessant, weil sie eine wortlose Sprache ist?
Sieglinde G.: Ich sehe Musik für mich nicht als Sprache. Es ist einfach Musik.
Was würden Sie sich im täglichen Leben von Nichtaspies wünschen?
Sieglinde G.: Dass das Schubladen-Denken aufhört. Dass man sich die Mühe macht, auch die ruhigeren Charaktere näher kennenzulernen. In denen ist oft mehr verborgen, als man auf den ersten Blick sehen kann. Jemand, der in größerer Runde wenig sagt, wird oft falsch eingeordnet.
Was könnten Nichtaspies von Aspies lernen?
Sieglinde G.: Man könnte im sprachlichen Sektor manches genauer hinterfragen. Dass bestimmte Formulierungen verschieden gedeutet werden können oder von vorneherein missverstanden werden, obwohl der Sprecher vielleicht etwas ganz anderes gemeint hat.

Sie tüfteln gerne an Problemlösungen und an Texten. Jura scheint die ideale Disziplin für Sie zu sein.
Sieglinde G.: Ja. Das macht mir sehr viel Spaß, weil es viel mit Sprache zu tun hat. Es liegt mir sehr, Texte auseinanderzunehmen.
Sie haben Ihr Studium in Würzburg begonnen, eine Zeit, die Sie im Buch als eine der schwersten in Ihren bisherigen Leben schildern. Haben Sie auch positive Erinnerungen an die Stadt?
Sieglinde G.: Das Stadtbild hat mir sehr gut gefallen. Obwohl Würzburg eine größere Stadt ist, wirkt es nicht großstadtmäßig. Ich war viel in den Weinbergen joggen. Ich fand es sehr schön, dass man nicht auf Straßen zwischen Wohnhäusern laufen musste.
Sieglinde G.: "Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom", Manuela Kinzel Verlag, 134 Seiten, 16 Euro.