Es ist so still in der großen Halle, dass schon das leise Kratzen des Reporter-Füllers zum Störgeräusch wird. Jürgen Lenssen spricht über Wahrheit. Leise, gelegentlich ein wenig undeutlich, fast, als denke er nur laut nach. Und doch kommt jeder Satz an, weil jeder seiner Sätze Gewicht hat. Lenssens Publikum jedenfalls lauscht ihm scheinbar atemlos.
Mit "Wahrheit" hat der ehemalige Kunstreferent der Diözese Würzburg die fünfte Ausgabe der Triennale für zeitgenössische Kunst in der Schweinfurter Kunsthalle überschrieben. Als Kurator hat er die Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke ausgewählt. Mindestens einmal wöchentlich führt er durch die Ausstellung, die Termine sind immer ausgebucht. Die Menschen kommen, weil sie Lenssens Arbeit kennen und schätzen, weil sie um seine rhetorischen Qualitäten, sein Charisma wissen. Und weil sie seine gelegentliche Unverblümtheit kennen, auch und gerade im Zusammenhang mit Kirche.
Und sie kommen, weil Lenssen über Kunst sprechen kann wie nur wenige. "Ich glaube, dass man die Menschen erreichen kann", ist einer seiner Leitsätze. Ein anderer: "Auf den Himmel ist Verlass." Vom Himmel ist an diesem Abend jedoch nicht so viel die Rede. Eher davon, wie der Anspruch auf diesen Himmel, dieser "ungeheuerlich freche" Wahrheitsanspruch, die Kirche zunehmend ihre Glaubwürdigkeit koste – "zu Recht", meint Lenssen.
Der Kurator steht und geht immer ein wenig vorgebeugt. Er formuliert druckreif, nur das eine oder andere Geburtsdatum hat er sich auf einen winzigen Zettel notiert. "Kunst und Wahrheit können ohne einander nicht", sagt Lenssen. "Nicht, dass Kunst uns hier vor Augen stellen würde, was Wahrheit ist. Das kann niemand. Aber Kunst kann Wege öffnen, sich der Wahrheit zu nähern." Der Priester und Kunsthistoriker hält Wahrheit für eine absolute Größe. Der Mensch könne sie ebenso wenig erkennen, wie er Gott erkennen könne.
Die Kunst lege eine Spur, der der Mensch ein Leben lang folgen könne. Und er müsse dazu bereit sein, Fragen zu stellen, hinter und unter Oberflächen zu schauen, auch vorgefertigte Bilder, fremdbestimmte Lebensentwürfe zu ersetzen. Er müsse vor allem ehrlich sein – zu sich und zu anderen. Ans Ziel, zur Wahrheit, gelange der Mensch nie: "Erst nach dem Tode werden wir es erfahren, und ich glaube, wir werden staunen, denn diese Wahrheit wird nichts mit dem zu tun haben, was wir dafür halten."
Ein paar dieser Spuren erläutert Lenssen an diesem Abend in der Kunsthalle. Die gezeichneten Blattformen von Rainer Nepita etwa, die grafisch schlicht anmuten, aber spüren lassen, "was uns in der Natur geschenkt wird an Fülle". Denn: "Wahrheit wird geschenkt, nicht gemacht. Das Wesentliche für unser Leben ist immer das Geschenkte, nie das Gemachte."
Oder die Mini-Wasserwaagen, Teil einer wandgroßen Arbeit von Adrian Wald. Sie sind identisch gelagert, und doch liegt die Luftblase in jedem Röhrchen woanders. Was für Lenssen bedeutet: "Es gibt nichts, von dem ich sagen kann, es ist absolut wahr. Ich kann mich auf nichts verlassen."
Oder die Holzskulpturen von Götz Sambale: Baumstämme, entrindet und "entlarvt", wie Lenssen sagt. Sie sind in Segmente zerlegt und so bearbeitet, dass sie aussehen wie Rückenwirbel gigantischer Urzeittiere. Oder wie maximal vergrößerte Objekte unter dem Mikroskop. Dazu kleine Figuren mit Krone und trotzig verschränkten Armen. Gestrige, wie Lenssen glaubt: "Systeme, die auf Macht und Geld basieren, zerfallen von selbst. Aber der Boden bleibt, aus dem etwas sprießen kann."
Den Kurator selbst hat wohl die Arbeit "Vaterhaus 3.0" am meisten berührt: Jürgen Hochmuth montierte darin Fotos, Briefe und Dokumente aus dem Leben seines Vaters, die er nach dessen Tod erst fand. Der Vater in Wehrmachtsuniform, der Wehrpass. Zeugnisse einer verschwiegenen oder verdrängten Vergangenheit. Ähnlich ist es Jürgen Lenssen mit seinem eigenen, im vergangenen Jahr gestorbenen Vater gegangen: "Natürlich haben wir unsere Väter gekannt und geschätzt. Aber richtig gekannt haben wir sie nicht. Jedenfalls nicht die ganze Wahrheit ihres Lebens. Aber das gebietet der Respekt: Das dem anderen zuzugestehen."