zurück
Schweinfurt
Jürgen Lenssen bei der Triennale Schweinfurt: Wie nahe kann Kunst der Wahrheit kommen?
Der Priester und Kunstexperte glaubt, dass kein Mensch zu Lebzeiten Wahrheit erkennen kann. Kunst aber könne immerhin Wege öffnen - wie jetzt in der Kunsthalle Schweinfurt.
Jürgen Lenssen vor der Arbeit 'Vaterhaus 3.0' von Jürgen Hochmuth.
Foto: Mathias Wiedemann | Jürgen Lenssen vor der Arbeit "Vaterhaus 3.0" von Jürgen Hochmuth.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:11 Uhr

Es ist so still in der großen Halle, dass schon das leise Kratzen des Reporter-Füllers zum Störgeräusch wird. Jürgen Lenssen spricht über Wahrheit. Leise, gelegentlich ein wenig undeutlich, fast, als denke er nur laut nach. Und doch kommt jeder Satz an, weil jeder seiner Sätze Gewicht hat. Lenssens Publikum jedenfalls lauscht ihm scheinbar atemlos.

Mit "Wahrheit" hat der ehemalige Kunstreferent der Diözese Würzburg die fünfte Ausgabe der Triennale für zeitgenössische Kunst in der Schweinfurter Kunsthalle überschrieben. Als Kurator hat er die Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke ausgewählt. Mindestens einmal wöchentlich führt er durch die Ausstellung, die Termine sind immer ausgebucht. Die Menschen kommen, weil sie Lenssens Arbeit kennen und schätzen, weil sie um seine rhetorischen Qualitäten, sein Charisma wissen. Und weil sie seine gelegentliche Unverblümtheit kennen, auch und gerade im Zusammenhang mit Kirche.

Und sie kommen, weil Lenssen über Kunst sprechen kann wie nur wenige. "Ich glaube, dass man die Menschen erreichen kann", ist einer seiner Leitsätze. Ein anderer: "Auf den Himmel ist Verlass." Vom Himmel ist an diesem Abend jedoch nicht so viel die Rede. Eher davon, wie der Anspruch auf diesen Himmel, dieser "ungeheuerlich freche" Wahrheitsanspruch, die Kirche zunehmend ihre Glaubwürdigkeit koste – "zu Recht", meint Lenssen.

"Kunst und Wahrheit können ohne einander nicht."
Jürgen Lenssen, Kurator der Triennale Schweinfurt

Der Kurator steht und geht immer ein wenig vorgebeugt. Er formuliert druckreif, nur das eine oder andere Geburtsdatum hat er sich auf einen winzigen Zettel notiert. "Kunst und Wahrheit können ohne einander nicht", sagt Lenssen. "Nicht, dass Kunst uns hier vor Augen stellen würde, was Wahrheit ist. Das kann niemand. Aber Kunst kann Wege öffnen, sich der Wahrheit zu nähern." Der Priester und Kunsthistoriker hält Wahrheit für eine absolute Größe. Der Mensch könne sie ebenso wenig erkennen, wie er Gott erkennen könne.

Blick in die große Halle der Schweinfurter Kunsthalle. Über allem prangt der Begriff 'Wahrheit'.
Foto: Martina Müller | Blick in die große Halle der Schweinfurter Kunsthalle. Über allem prangt der Begriff "Wahrheit".

Die Kunst lege eine Spur, der der Mensch ein Leben lang folgen könne. Und er müsse dazu bereit sein, Fragen zu stellen, hinter und unter Oberflächen zu schauen, auch vorgefertigte Bilder, fremdbestimmte Lebensentwürfe zu ersetzen. Er müsse vor allem ehrlich sein – zu sich und zu anderen. Ans Ziel, zur Wahrheit, gelange der Mensch nie: "Erst nach dem Tode werden wir es erfahren, und ich glaube, wir werden staunen, denn diese Wahrheit wird nichts mit dem zu tun haben, was wir dafür halten."

"Das Wesentliche für unser Leben ist immer das Geschenkte, nie das Gemachte."
Priester und Künstler Jürgen Lenssen

Ein paar dieser Spuren erläutert Lenssen an diesem Abend in der Kunsthalle. Die gezeichneten Blattformen von Rainer Nepita etwa, die grafisch schlicht anmuten, aber spüren lassen, "was uns in der Natur geschenkt wird an Fülle". Denn: "Wahrheit wird geschenkt, nicht gemacht. Das Wesentliche für unser Leben ist immer das Geschenkte, nie das Gemachte."

Mini-Wasserwaagen, Teil einer  Arbeit von Adrian Wald. Die Luftblase liegt in jedem Röhrchen woanders. 
Foto: Mathias Wiedemann | Mini-Wasserwaagen, Teil einer  Arbeit von Adrian Wald. Die Luftblase liegt in jedem Röhrchen woanders. 

Oder die Mini-Wasserwaagen, Teil einer wandgroßen Arbeit von Adrian Wald. Sie sind identisch gelagert, und doch liegt die Luftblase in jedem Röhrchen woanders. Was für Lenssen bedeutet: "Es gibt nichts, von dem ich sagen kann, es ist absolut wahr. Ich kann mich auf nichts verlassen."

'Entlarvte' Baumstämme: Holzskulpturen von Götz Sambale.
Foto: Martina Müller | "Entlarvte" Baumstämme: Holzskulpturen von Götz Sambale.

Oder die Holzskulpturen von Götz Sambale: Baumstämme, entrindet und "entlarvt", wie Lenssen sagt. Sie sind in Segmente zerlegt und so bearbeitet, dass sie aussehen wie Rückenwirbel gigantischer Urzeittiere. Oder wie maximal vergrößerte Objekte unter dem Mikroskop. Dazu kleine Figuren mit Krone und trotzig verschränkten Armen. Gestrige, wie Lenssen glaubt: "Systeme, die auf Macht und Geld basieren, zerfallen von selbst. Aber der Boden bleibt, aus dem etwas sprießen kann."

Den Kurator selbst hat wohl die Arbeit "Vaterhaus 3.0" am meisten berührt: Jürgen Hochmuth montierte darin Fotos, Briefe und Dokumente aus dem Leben seines Vaters, die er nach dessen Tod erst fand. Der Vater in Wehrmachtsuniform, der Wehrpass. Zeugnisse einer verschwiegenen oder verdrängten Vergangenheit. Ähnlich ist es Jürgen Lenssen mit seinem eigenen, im vergangenen Jahr gestorbenen Vater gegangen: "Natürlich haben wir unsere Väter gekannt und geschätzt. Aber richtig gekannt haben wir sie nicht. Jedenfalls nicht die ganze Wahrheit ihres Lebens. Aber das gebietet der Respekt: Das dem anderen zuzugestehen."

5. Triennale in Schweinfurt - der Kurator und die Ausstellung

Jürgen Lenssen war bis 2017 Domkapitular und Kunstreferent der Diözese Würzburg. Der 74-Jährige gilt als ausgezeichneter Kenner der Kunstszene und beteiligte bei Um- und Neugestaltungen von Kirchenräumen meist zeitgenössische Künstler. Konservativen Gläubigen waren seine Eingriffe oft zu weitreichend. Aufsehen erregte Lenssen bei der Gestaltung des Museums am Dom in Würzburg: Der damalige Bischof Friedhelm Hofmann ließ noch vor seinem Amtsantritt 2014 den nackten „Auferstandenen“ von Maler Michael Triegel wieder abhängen. Als Priester ist der Lenssen für unkonventionelle und kontroverse Standpunkte bekannt. 
Die 5. Triennale für zeitgenössische Kunst läuft noch bis 5. September in der Schweinfurter Kunsthalle und in der St. Johanniskirche. Zu sehen sind Arbeiten von Walter Bausenwein, Udo Breitenbach, C.U. Frank, Thomas Hildenbrand, Jürgen Hochmuth, Rainer Nepita, Götz Sambale, Birgitta Volz, Adrian Wald, Jürgen Wolf. Täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. 
Quelle: maw
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Schweinfurt
Mathias Wiedemann
Ausstellungen und Publikumsschauen
Bischöfe
Friedhelm Hofmann
Geistliche und Priester
Gläubige
Jürgen Lenssen
Jürgen Wolf
Kultur in Unterfranken
Kulturhistoriker
Kunstexperten
Kunsthalle Schweinfurt
Künstlerinnen und Künstler
Malerinnen und Maler
Michael Triegel
Wald und Waldgebiete
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen