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WÜRZBURG
Interview Edgar Reitz: Heimat ist da, wo noch niemand war
Vor 30 Jahren hat Edgar Reitz als Erster das Fernsehen für die ganz große Erzählform genutzt. Allmählich findet er Nachfolger.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 27.04.2023 03:11 Uhr

Edgar Reitz, Meister der ganz großen Erzählform in Kino und Fernsehen („Heimat“), ist Stargast des 43. Internationalen Filmwochenendes in Würzburg vom 26. bis 29. Januar. Im Gespräch verrät er, warum er das Medium Fernsehen für überholt hält und warum sich auch das Kino fundamental ändern muss.

Frage: Ich kann mich gut an die wöchentlichen Ausflüge via Fernseher nach Schabbach erinnern. Der Hunsrück-Ort ist auf eigenartige Weise damals für uns alle ein Stück Heimat geworden. Haben Sie überhaupt noch Lust, über Heimat zu reden, oder nervt's langsam?

Edgar Reitz: Begrenzt. Die Diskussion über den Begriff ist inflationär geworden. Und jetzt erleben wir auch noch Zeiten, in denen wieder die Falschen sich dieses Begriffs bemächtigen. Als ich damals anfing mit dem Werk – 1980, 1984 kam dann die erste Staffel heraus –, da war das noch ein Tabu, dieses Wort „Heimat“. Da war der Heimatfilm, da war aber natürlich auch die Vereinnahmung durch die Nazi-Ideologie, „Blut und Boden“ und so weiter, die ganze völkische Vorstellungswelt von Heimat. Und natürlich auch so eine pseudofolkloristische Heimatstadel-Welt. Deswegen gab es 1984, als wir den Film herausbrachten, große Zweifel, ob man das Werk überhaupt mit dem Wort Heimat bezeichnen will. Man hatte dabei das Gefühl, mit einem Bein im Morast zu stehen.

Ich würde Sie trotzdem gerne konfrontieren mit dem Begriff Heimat in Verbindung mit anderen Begriffen. Etwa so: Heimat als Hochglanzmagazin.

Reitz: Das sagt mir gar nichts.

Ich denke an Magazine wie „Landlust“, Einrichtungstipps fürs Landhaus, Tipps, wie man sein Gemüse am besten selbst anbaut, die besten Strecken, um mit dem Irish Setter spazieren zu gehen. Die Idee Heimat, ausgelagert in einen dekorativen Fantasieraum.

Reitz: Ist mir noch nicht vorgekommen. Wenn's diese Richtung auch noch annimmt, dann wird's schwierig.

Heimat als Festung.

Reitz: Das ist schon immer eine Gefahr gewesen. Dass sich bestimmte Leute in ihrer Heimat verschanzen und von der Welt abkoppeln. Auf einer Diskussion in Hamburg sagte einmal eine überzeugte Hamburgerin: „Hamburger kann man nicht werden, Hamburger ist man oder ist man nicht.“ Diese Vorstellung, die Heimat gehört mir und keinem anderen, die begegnet einem immer wieder.

Heimat als Idee zwischen Verlust und Ziel.

Reitz: Das ist Heimat als Sehnsuchtspunkt. Der Philosoph Ernst Bloch hat festgestellt, dass es eine erinnerungsvolle Sehnsucht nach Heimat gibt. Und damit ist Heimat ein Ort, an dem noch niemand war. Damit kann ich sehr viel anfangen, denn es geht ja letztlich um die Frage, wie sich der Mensch sein Glück vorstellt. Wo ist Geborgenheit, Zufriedenheit, das Rundum-Kuschelglück? Gibt es das in Gestalt eines bestimmten Ortes? Das ist wahrscheinlich eine Ursehnsucht, die nie erfüllt werden kann.

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Heimat als innere Haltung.

Reitz: Es gibt Leute, die eine militante Vorstellung von Heimat haben. Das ist mir völlig fremd. Im Gegenteil, ich bin ja in einer Landschaft aufgewachsen, auf die man überhaupt nicht stolz sein konnte. Der Hunsrück war ein karges, armes Land, in Jahrhunderten immer wieder gebeutelt zwischen verschiedenen Nationalitäten, immer wieder überrannt von Kriegsgeschehen. Von hier wollten alle weg. Es sind immer alle ausgewandert. Ich glaube, das gibt es nirgendwo stärker als in deutschen Landen: diese Abwendung der Menschen von ihrer Heimat.

Der Gegenentwurf im Überzeichneten wäre dann Heimat als Parteiprogramm.

Reitz: Das ist das, was der Nationalsozialismus betrieben hat und was jetzt am Horizont wieder aufscheint. Was mir den Begriff wieder unheimlich werden lässt. Ein Rückzieher in den Morast, dem ich zu entkommen suchte, und das nach einer über drei Jahrzehnte entstandenen positiven Diskussion.

Eines Ihrer Mottos ist „Mit dem Leben Schritt halten“. Was bedeutet das, was derzeit politisch um uns herum passiert, für Sie als Filmemacher?

Reitz: Mit dem Leben Schritt halten heißt, dass man nicht in seinen Haltungen erstarren darf. Es gibt keine Wahrheit, die für alle Zeiten wahr ist. Wer bewusst und wach lebt, wird immer wieder mit den Grundfragen seines Lebens konfrontiert werden. Und darauf ehrlich Antworten zu suchen, ist meines Erachtens eine urdemokratische Haltung. Mit der neuen Rechten sind wir wieder umgeben von Rechthabern, also Leuten, die behaupten zu wissen, was wahr ist und was nicht. Das ist ein Zeichen von Erstarrung, und da will ich nicht hin.

Bedeutet das für den Künstler eine Verpflichtung, das Wort zu erheben?

Reitz: Neutral ist die Kunst nie. Auf der anderen Seite ist sie aber auch nicht dazu da, politisch eingespannt zu werden. Künstler sind oft wache Menschen, die sich politisch engagieren. Aber das ist sozusagen eine charakterliche Parallele. Es ist keine Bedingung für Kunst.

Kevin Spacey hat das Goldene Zeitalter des Fernsehens ausgerufen und meint damit die Fülle hochwertiger, epischer Serien. Hat das Fernsehen das Kino als relevantes Medium für große Erzählungen abgelöst?

Reitz: Ich war ja der Erste, der sich dieser Erzählweise zugewandt hat, für den das zur Lebensaufgabe geworden ist. In der Literatur gibt es seit Jahrtausenden die epische Form. Alle Mythen und Märchen und die großen Identitätsgeschichten, die mit Landschaften und Völkern verbunden sind, sind epische Formen. Das hat das Kino nur als Randerscheinung ausgebildet. In den frühen Zeiten des Stummfilms gab es das eine oder andere Werk, etwa „Birth of a Nation“ von Griffith 1915 oder „Greed“ von Stroheim 1924. Das waren ganz wenige Ausnahmewerke. Es war deshalb überfällig, dass die Filmkunst die epische Erzählform entdeckt.

Dass das jetzt als etwas so Neues herauskommt, liegt meines Erachtens daran, dass hier etwas nachgeholt werden musste. Die Filmkunst ist die jüngste aller Künste und braucht deshalb etwas Zeit, bis sie auf der Höhe ihrer Möglichkeiten ankommt.

Und das ausgerechnet im Fernsehen?

Reitz: Ich glaube, dass das Fernsehen als Medium auch dem Untergang geweiht ist. Durch die neuen Möglichkeiten der Verbreitung über das Internet kann sich der Zuschauer vollkommen unabhängig machen von Sendezeiten und Programmschienen. Es bilden sich völlig neue Gewohnheiten heraus. Die epische Erzählform in Gestalt solch langer Werke, die manchmal Serien genannt werden oder auch Epen, erlaubt einen vollkommen freien und selbst gewählten Umgang damit. Ich habe erlebt, dass junge Leute sich irgendwo treffen, wo sie exzessiv kucken und sich ganze Nächte um die Ohren schlagen . . .

. . . das „binge watching“ . . .

Reitz: . . . ja, da kann man bis zur Bewusstlosigkeit eintauchen in solche Erzählformen. Das finde ich etwas absolut Wunderbares. Das habe ich mir für „Heimat“ immer gewünscht. Und das findet bis heute weltweit immer wieder statt: Dass sich Leute treffen, um sich 16 oder 20 Stunden in die Geschichte hineinziehen zu lassen. Das ist die eigentlich neue Umgangsweise. Und da kann das Fernsehen mit seinen Programmschienen nicht mithalten.

Was bedeutet all das für das Kino?

Reitz: Das ist die andere Frage. Was das Kino zu bieten hat, ist nicht der Film. Das ist die alte Denkweise. Was das Kino zu bieten hat, ist die Gemeinschaft. Das gemeinschaftliche Anschauen. Das sehen wir an den Festivals, und damit sind wir bei Würzburg: Es gibt über 600 kleine Kinofestivals in Europa, und sie sind alle erfolgreich. Die haben alle massenhaft Besucher – da zeigt sich das Bedürfnis, gemeinsam zu erleben. Es geht meiner Beobachtung nach gar nicht so sehr darum, das Gesehene hinterher in Diskussionen intellektuell aufzuarbeiten, wie das oft versucht wird. Das ist gar nicht das Entscheidende. Der Mensch ist ein Lebewesen, das in Gemeinschaft ein gesteigertes Lebensgefühl entwickelt.

Und diese gesteigerte Wahrnehmungsmöglichkeit wird das Kino immer haben. Da ist allerdings die Frage, in welcher Form sich auch das Kino wandelt. Ich vermute, dass es in Zukunft viel von den Festivals lernen wird.

Das Kino wird also ein Stück unserer kollektiven Heimat bleiben?

Reitz: Ich habe immer gesagt, für mich als Erzähler ist die Erzählung selbst eine Heimaterfahrung. In die Geschichten einzutauchen, heißt, die eigenen Lebenserfahrungen mit denen anderer zu vermischen und so einzudringen in ein gemeinschaftliches kulturelles Wahrnehmen. Mit diesem Thema wird man sich allerdings noch sehr intensiv auseinandersetzen müssen. Denn vieles, was heute noch in den Denkgewohnheiten der Kinobetreiber ist, hat keine Zukunft. Das klassische Kino als mittelständisches Unternehmen in der Fußgängerzone mit wöchentlich wechselndem Programm, wird es sehr schwer haben zu überleben.

Edgar Reitz und das Internationale Filmwochenende

Der Filmemacher, Autor und Hochschullehrer Edgar Reitz wurde am 1. November 1932 in Morbach im Huns- rück geboren, wo er auch aufwuchs. Der Vater war Uhrmacher. Studium der Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft in München. Seit Mitte der 1950er Jahre literarische Arbeiten.

Ab 1957 Kameramann und Regisseur von Dokumentarfilmen. Mitglied der „Oberhausener Gruppe“, der auch Alexander Kluge angehörte, die 1962 das „Oberhausener Manifest“ und damit den deutschen Autoren-Film hervorbrachte.

Gleich sein erster Spielfilm, „Mahlzeiten“, wurde 1967 bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet. Seine bekannteste Arbeit ist das epische Werk „Heimat“. Das Filmwochenende zeigt sieben Edgar-Reitz-Filme, entstanden zwischen 1966 und 2006.

Vom 26. bis 29. Januar findet das 43. Internationale Filmwochenende Würzburg im Central-Kino in der Frankfurter Straße sowie an zwei Tagen im Vogel-Convention-Center statt.

Über 50 Filme werden gezeigt.

Eintrittskarten ab Donnerstag im Maschinenhaus; Reservierungen unter Tel. (09 31) 78 02 38 88 oder online.

Infos: www.filmwochenende.de maw

 
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