Nichts fasziniert die Menschen mehr als eine Geschichte. Eine Geschichte erzählt bekommen. Eine Geschichte erzählen. Beim Improvisationstheater findet beides gleichzeitig statt: Auf der Bühne entwickeln die Figuren aus dem Moment heraus eine Handlung, das Publikum darf Namen, Schauplätze und sogar Wendungen beisteuern. Kurioserweise ficht das den Zauber nicht an, wie man vielleicht meinen könnte. Schließlich ist es kaum vorstellbar, dass "Romeo und Julia", "Der Zauberberg" oder "Harry Potter" besser geworden wären, hätte die Leserschaft reinquatschen dürfen.
Beim Improtheater aber ist das nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Weil es nicht darum geht, die dramaturgisch bestmögliche Handlung zu drechseln, sondern die Inspiration des Augenblicks zu nutzen. Das kann die völlig absurde Enthüllung sein, der witzige Geistesblitz, der sich zum Running Gag mausert, oder der Cliffhanger, der unbezähmbare Neugier auf die Fortsetzung macht.
Beim 19. Würzburger Improtheater-Festival war diesmal die Gabe der Improvisation gefragt, lange, bevor das erste Bühnenlicht anging. Immer neue Corona-Zahlen und -Auflagen zwangen zu immer neuen Umplanungen, bis am Montag schließlich klar war: Die Workshops, traditionell Herzstück des Festivals, können nicht stattfinden. Und damit auch einige der geplanten Formate nicht, denn Leiter und Teilnehmer dieser Workshops bilden sonst einen wichtigen Teil des Ensembles.
Ein Schaukampf um den Titel "Beste Improtheater-Regisseurin 2020"
"Wir haben innerhalb von 24 Stunden ein komplett neues Programm auf die Beine gestellt", sagt Lena Försch, die künstlerische Leiterin, bei der Begrüßung zur Eröffnungsgala am Mittwoch in der Würzburger Posthalle. Die erste Änderung: Anstatt des personalintensiveren Formats "Maestro" wird "Superscene" gespielt – ein Schaukampf um den Titel "Beste Improtheater-Regisseurin 2020", wie Moderator Jim Libby verkündet. Der Superlativ ist bei näherer Betrachtung gar nicht mal so übertrieben, schließlich finden dieser Tage wohl kaum anderswo Konkurrenzveranstaltungen statt.
"Würzburg ist die Hauptstadt der weltweiten Improszene." Sagt jedenfalls Bürgermeister Martin Heilig in Vertretung von Schirmherr OB Christian Schuchardt. Das Publikum ist gewillt, ihm zu glauben, und bemüht sich nach Kräften und durchaus erfolgreich, Atmosphäre zu produzieren – trotz Abständen und Maskenpflicht am Platz während der ganzen Vorstellung.
Angetreten sind Carina, Anne, Bea und Lena – in der Improszene gibt es zwar durchaus bekannte Namen, Jim Libby, der amerikanische Wahlwiener, ist einer von ihnen, auf der Bühne aber reichen Vornamen. Jede Bewerberin muss eine Ausgangsszene entwerfen, die dann von allen gemeinsam schauspielerisch in Angriff genommen wird.
Die Pommesbude als Hort eines dunklen Familiengeheimnisses
Carina bekommt aus dem Saal eine Pommesbude als Kulisse vorgegeben. Von hier aus entwickelt sich flugs eine zaghafte Liebesgeschichte mit dunklem Familiengeheimnis. Lena setzt ein Aussteiger-Paar im Dschungel aus, das sich ein wenig zu krampfhaft darüber freut, dass es hier weder blutige Steaks noch Instagram gibt. Bea verschafft Würzburg endlich den eigenen "Tatort", und Anne verwandelt ein Urlaubsparadies in Tahiti ("Wo ist das überhaupt?") zum Schauplatz eines verwirrenden Liebesdramas.
Nach vier ersten Szenen stimmt das Publikum per Beifall ab. Eine Regisseurin ist raus, die anderen drei machen mit Szene 2 weiter. Es trifft Lena, die sich beim Abgang als manische Rampensau inszeniert, die man immer wieder von der Bühne zerren muss: "Ich komm' wieda!" Schon entsteht ein Running Gag und, mehr noch, ein Stück im Stück.
Dass Darstellerinnen und Darsteller neben Risikobereitschaft und ausgeprägtem Spieltrieb einiges an Improerfahrung mitbringen, zeigt die Geistesgegenwart, mit der sie auf unerwartete Anforderungen reagieren. Da werden Stegreif-Monologe gehalten ("Wo ist mein Schaf?"), Lieder gesungen ("Maybe it's Ananas-Love"), neue Hunderassen erfunden ("Frenchbullpitdogterrier") und in letzter Minute sogar Happy Ends gezimmert: "Ich werde dir nie entfolgen!"
Es ist ein kollegiales, ja liebevolles gemeinsames Spiel (dank negativer Corona-Tests müssen die Darsteller keine Abstände einhalten) mit Theater- und Kino-Klischees von Rosamunde Pilcher bis Stephen King, das seine Kraft aus dem ebenfalls gemeinsamen Glauben an die Kraft von Geschichten bezieht. Es ist lustig, spannend und gelegentlich sogar richtig berührend. Vielleicht doch ganz gut, wenn das Publikum hin und wieder mal reinquatscht.
Ach ja: Zum Schluss wird Anne mit ihrem Tahiti-Liebesdrama zur besten Improtheater-Regisseurin 2020 gekürt.
Das Festival: Bis Samstag finden weitere Shows an verschiedenen Spielorten statt. Der jeweils aktuelle Stand nach coronabedinten Umplanungen ist auf www.improtheaterfestival.de einsehbar.