Wie ein Rebell sieht dieser Stolzing nicht unbedingt aus. Der verarmte Junker vom Lande, der in seiner Unbedarftheit den Wertekanon der protestantischen Effizienzhochburg Nürnberg auf den Kopf stellt und zum Schluss auch noch die Tochter des Goldschmieds freien darf, menschgewordenes Symbol des finanzkräftigen Establishments, dieser freundliche, etwas korpulente Mann mit der hohen Stirn, wirkt in der Detmolder Version der „Meistersinger von Nürnberg“ eher wie ein leicht phlegmatischer, etwas eigenbrötlerischer Privatier, der quasi aus Versehen sein Landgut mit der quirligen Metropole vertauscht hat.
Die bürgerliche Ordnung gibt vor, was Kunst darf und was nicht
Damit ist der Ton vorgegeben in Kay Metzgers Inszenierung der Wagner-Oper für das Landestheater Detmold, die noch dreimal am Theater der Stadt Schweinfurt zu sehen ist: Natürlich treffen Klischees aufeinander, das soll ja auch so sein. Hier die bürgerliche Ordnung, die genau vorgibt, was Kunst darf und was nicht (denn es geht in den „Meistersingern“ vor allem um die Kunst), dort die freie Kreativität, die im Grunde noch nicht einmal daran interessiert ist, woher sie ihre Inspiration bezieht. Hier die Sicherheit des Regelwerks, dort das Risiko der voraussetzungslosen Neuschöpfung.
Aber Kay Metzger gelingt es, diese „Meistersinger“ quasi aus der Haltung eines Walther von Stolzing heraus zu interpretieren: Das Stück durchzieht eine – freilich wohldurchdachte (schließlich ist Metzger ausgewiesener Wagner-Spezialist) – Unvoreingenommenheit, die auf einen ausgeprägten Spieltrieb schließen lässt. Kein Zufall also, dass Metzger höchstselbst (in Vertretung) und sehr überzeugend die stumme, hinzuerfundene Rolle des Kobolds spielt, der das gesamte Geschehen lenkt und damit die vermeintlich diesseitigen, magielosen „Meistersinger“ doch wieder zu einer Zauberoper macht.
Ein Hauch von Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder
Bühnenbild und Kostüme von Petra Mollérus umweht ein Hauch von Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder. An einer Wand ein helles Rechteck, wo vermutlich zuvor ein Porträt des „Führers“ hing. Wir befinden uns also nicht in vornationaler (wie zur Entstehung der Oper), sondern in postnationaler Zeit. Das wiederum legt nahe, dass das beinharte Festhalten eines Beckmesser an bürgerlichen Gepflogenheiten eine Art Rückbesinnung nach zwischenzeitlicher Verunsicherung ist. Umso verwirrender muss auf Beckmesser dieser Stolzing wirken.
Doch die besondere Stärke dieser Inszenierung liegt in der virtuosen Verwebung von Struktur und Detail: Ständig ist alles in Bewegung. Gerade im personalintensiven ersten Akt strahlt die Bühne echtes Leben aus. Das posiert und wuselt, promeniert und debattiert, dass es eine rechte Freude ist. 18 Solisten gibt Wagner vor, hinzu kommen Orchester, Chor, Extrachor und Statisterie – die Detmolder sind mit einem 180-köpfigen Ensemble angereist, und Metzger weiß es einzusetzen.
Die Hauptfiguren sind komplexe Charaktere
Und echtes Leben erfüllt auch die Hauptfiguren, die so zu komplexen Charakteren werden. Derrick Ballards Hans Sachs kann sich dank seiner natürlichen Autorität auf seinen Rückhalt in der Bürgerschaft verlassen – und ringt dennoch mit künstlerischen Selbstzweifeln und seiner (mehr oder weniger) uneingestandenen Liebe zu Eva.
Heiko Börner ist ein gutartiger Stolzing, der ein klein wenig Anschub von außen braucht, um seinen Zielen treu zu bleiben. Insofern wirkt auch seine Leidenschaft für Eva (die einige Mühe hat, die Beschaffenheit ihrer Gefühle für Sachs zu klären) eher verhalten. Eva Bernard gibt die Eva als kalkuliert eigensinnigen Backfisch – eine Strategie, mit der vermutlich alle Heranwachsenden in restriktiven Gesellschaften erfolgreich sind.
Und dann ist da noch der wunderbare Beckmesser von Andreas Jören: eckig, schlacksig, spießig, verkrampft. Anfangs umgibt ihn noch der Panzer des Hochmuts, den die mitläuferische Sängergilde anstelle echter Qualifikation akzeptiert, aber spätestens als er zum Ständchen für Eva mit Aktentasche, Fußschemel und Thermoskanne anrückt, erodiert dieser Panzer. Was übrig bleibt, ist pure Verzweiflung, und die ist bei aller Verschlagenheit Beckmessers tatsächlich anrührend.
Allgegenwärtige männliche Selbstgerechtigkeiten
Das alles ist schauspielerisch brillant umgesetzt, eine Fülle von Regieeinfällen macht die sechs Stunden (inklusive zwei ausgedehnte Pausen) zu einem extrem kurzweiligen Vergnügen. Beckmessers urkomische Kämpfe mit einem Notenständer oder einem schiefhängenden Bild etwa. Evas mimische Kommentare zu den allgegenwärtigen männlichen Selbstgerechtigkeiten. Oder die (fast) immer mitschwingende Ironie in Hans Sachsens sämigem Bassbariton.
Denn diese „Meistersinger“ sind auch sängerisch durchweg erfreulich – was auch für den lupenreinen und sehr präsenten Chor gilt. Aus dem Graben tönt es unter der Leitung von Lutz Rademacher präzise und vital, mitunter etwas wuchtig im Blech, anfängliche Balanceprobleme am Premierenabend sind aber spätestens im dritten Akt bewältigt.
Zum Schluss, als Eva und Stolzing heil im Schrebergarten (inklusive Gartenzwerg) untergebracht sind und die Deutschlandfahne weht, ist also der (gar nicht wo wilde) Naturbursche domestiziert und der soziale Frieden wiederhergestellt. Das gar nicht erschöpfte Publikum bedankt sich stehend und rhythmisch applaudierend und bravorufend.
Weitere Vorstellungen: Sonntag, 29. Januar, Freitag, 3., und Sonntag, 5. Februar, Beginn immer 17 Uhr. Karten: Tel. (0 97 21) 51 49 55 oder 51 0. www.theater-schweinfurt.de