Andreas Mildner gehört zu den Musikern, die immer neugierig bleiben. Je mehr er erfährt, desto mehr will er wissen. Über die vierte Sinfonie von Gustav Mahler zum Beispiel: "Es gibt unendlich viel zu entdecken. Das hört nie auf." Andreas Mildner hat die Sinfonie sehr oft im Orchester gespielt, zuletzt im Sinfonieorchester des WDR, wo er von 2013 bis 2019 Soloharfenist war. 2015 wurde er als Professor für Harfe an die Hochschule für Musik Würzburg berufen. Wo er nun mit einem 15-köpfigen Ensemble eine Kammerversion eben dieser Sinfonie einstudiert.
"Ein Pilotprojekt", wie er sagt. "Es geht für mich darum, als Musiker weiterzukommen, vor allem aber, den Studierenden zu zeigen, dass Musizieren immer vom gemeinsamen Atem, vom gemeinsamen Puls lebt, egal, ob im großen Orchester oder im Kammerensemble. Im Kammerensemble kann man halt nicht mitschwimmen. Da ist jede einzelne Stimme extrem exponiert."
Wer Andreas Mildner im Konzert erlebt, wird ganz sicher kein Nachlassen irgendwelcher Kräfte feststellen
Vom WDR-Orchester hat er sich mit einem witzigen Sportler-Video verabschiedet: "Nach den Rücktritten von Felix Neureuther, Dirk Nowitzki und zuletzt auch Laura Dahlmeier im Biathlon habe auch ich mich dazu entschieden, meine Karriere hier zu beenden. Es gibt mir alles noch wahnsinnig viel, aber ich komme jetzt in ein Alter, wo ich merke, dass das alles nicht mehr so selbstverständlich funktioniert. Mein Körper kommt an seine Grenzen."
Andreas Mildner ist 1984 in Schweinfurt geboren, er wurde mit 14 Jahren in die Würzburger Harfenklasse von Gisèle Herbet aufgenommen, hat mit 17 sein Debüt als Solist mit Orchester gegeben und wurde mit 31, gerade mal sechs Jahre, nachdem er selbst sein Studium mit dem Meisterklassendiplom beendet hatte, Professor. Die Altersfrage ist bei ihm also genau anders herum zu beantworten als im Video. Und wer ihn im Konzert erlebt, wird ganz sicher kein Nachlassen irgendwelcher Kräfte feststellen.
Selten hört man Wagners "Lied an den Abendstern" inniger oder Puccinis "E lucevan le stelle" dramatischer
Obwohl Andreas Mildner jetzt hauptamtlicher Hochschullehrer mit einer vergleichsweise großen Klasse von 13 Studierenden ist, hat er seine aktive Karriere als Harfenist mitnichten beendet. "Regelmäßiger Unterricht ist für die Studenten wichtig, aber ebenso wichtig ist es, dass der Lehrer auch spielt", hat er einmal gesagt. Er ist als Solist auf den großen internationalen Klassik-Festivals gefragt, spielt sehr viel Neue Musik und Kammermusik und begibt sich auch gerne in sozusagen nichtklassische Situationen: Mit dem Tubisten Andreas Martin Hofmeir bildet er das weltweit möglicherweise einzige Duo seiner Art.
Hofmeir und Mildner spielen nicht ohne satirische Anklänge klassisches Repertoire in berückend originellen Arrangements, zuletzt Lieder und Arien unter dem Titel "Besser ohne Worte" (CD bei Genuin Classics). Das funktioniert verblüffend gut – selten hört man Wagners "Lied an den Abendstern" inniger oder Puccinis "E lucevan le stelle" dramatischer.
In der Kammerversion von Mahlers Vierter, die am 8. Januar im Theater der Musikhochschule in der Bibrastraße zu hören sein wird, spielt Andreas Mildner nicht selbst die Harfe, die hier wie so oft bei Mahler eine Schlüsselrolle spielt, sondern eine Studentin aus seiner Klasse. Der Rest des Ensembles setzt sich ebenfalls aus Studierenden der Hochschule zusammen – solchen, die weit genug sind, ein derart filigranes und vielschichtiges Stück einzustudieren, vor allem aber solchen, die Lust haben, ein Projekt abseits des Normalbetriebs auszuprobieren.
Den Sopranpart im vierten Satz übernimmt die aus Würzburg stammende Sängerin Mirella Hagen, die zuletzt Pamina ("Zauberflöte") und Gretel ("Hänsel und Gretel") in Dresden oder den Waldvogel ("Siegfried") in Genf gesungen hat. Zwischen den Sätzen der Sinfonie, die etwa eine Stunde dauert, wird Johannes Engels aus Briefen Mahlers vorlesen.
Andreas Mildner leitet die Proben und wird im Konzert dirigieren. Dass er das kann, weiß er, seit ihn ein langjähriger Kammermusikpartner, der Oboist, Komponist und Dirigent Heinz Holliger, völlig unvorbereitet vor ein Orchester gestellt und gesagt hat: "Mach mal!" – "Im Idealfall muss ich gar nicht viel machen", sagt Mildner. Wenn es gelinge, ein Ensemble zum gemeinsamen Atem zu inspirieren, "dann ist es egal, wer da vorne den Hampelmann macht".
Es gab schon immer Bearbeitungen großer Sinfonik für kleine Besetzungen, auch der Werke Mahlers und Bruckners
Viele Musikfreunde verbinden Gustav Mahler (1860-1911) vor allem mit riesigen Orchester-Apparaten wie denen von Bruckner oder Wagner. Dabei gab es schon immer Bearbeitungen großer Sinfonik für kleine Besetzungen, auch der Werke Mahlers und Bruckners, die in Zeiten, in denen es noch keine Wiedergabemedien gab, vorwiegend in privatem Rahmen gespielt wurden. Arnold Schönberg gründete dazu eigens den "Verein für musikalische Privataufführungen", der von 1918 bis 1921 bestand und vor allem das Ziel hatte, "Künstlern und Kunstfreunden eine wirkliche und genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen", wie es im Prospekt des Vereins hieß.
Auch die Kammerversion von Mahlers Vierter mit solistischen Streichern, Holzbläsern, Klavier, Akkordeon, zwei Schlagzeugern und Harfe könnte den Zuhörern eine "wirkliche und genaue Kenntnis" des Werks verschaffen, denn einerseits erleben die Musiker ihre jeweilige Rolle innerhalb des Ensembles deutlicher als im großen Orchester, andererseits kann der Zuhörer eben dadurch die Struktur des Werkes besser durchhören. Andreas Mildner nennt das Stück, das zwischen irdischem C-Dur und paradiesischem E-Dur changiert, eine "Als-ob-Sinfonie": "Man weiß nie, ob man dem Ganzen trauen kann, den vorgekaukelten Idyllen etwa, die sofort wieder zerstört werden. Diese Musik spielt mit uns als Zuhörern."
Das Konzert: Gustav Mahler, 4. Sinfonie G-Dur, Bearbeitung für Kammerensemble. Mittwoch, 8. Januar, 19.30 Uhr, Hochschule für Musik Würzburg, Theater in der Bibrastraße.