Er hätte Spannendes erzählen können. Aus einem Leben prallvoll mit politischen, beruflichen und privaten Umbrüchen. Aus einem Leben als Feindbild und Integrationsfigur, als einer der schillerndsten und umstrittensten Figuren der deutschen Wendezeit. "Ein Leben ist zu wenig", so hat der Linken-Politiker und letzte SED-Vorsitzende Gregor Gysi seine Autobiografie betitelt.
Weit über 100 000 Mal wurde sie seit 2017 verkauft, 600 Seiten für "sechs Leben" in Kindheit und Jugend, Studium, Anwaltszeit, Wendephase und zwei Abschnitten im vereinten Deutschland: Jahre der Anfeindung, gefolgt von Jahren der gesamtdeutschen Akzeptanz. Er hätte also weiß Gott Spannendes zu erzählen gehabt an diesem Abend im Wöllrieder Hof bei Würzburg, Bühne für das zweite MainLit-Literaturfestival.
In zwei Teilen: ausgefallene Lesung vom Vorjahr nachgeholt
Der eloquente Promi-"Ossi" mit Berliner Schnauze ist ein Magnet auch in Bayern: Schon im vergangenen Jahr war die geplante Lesung mit gut 600 Besuchern ausverkauft – doch Gysi blieb auf der Autobahn in Schnee und Stau stecken. So waren ihm die Veranstalter dankbar, dass er am Samstag coronabedingt mit zwei verkleinerten Auftritten hintereinander seine Zusage vom Vorjahr einlöste.
Leger sitzt er nun auf der Bühne, die Beine überschlagen, braungebrannt wie frisch aus dem Urlaub. Der Mann muss sich nicht locker machen, er ist es. Eine Haltung im vermeintlichen Widerspruch zu einer Biografie, der es an Härten nicht mangelt – von der "Spiegel"-Attacke 1990 ("Der Strippenzieher") über Stasi-Vorwürfe bis hin zu drei Herzinfarkten und einer Gehirn-Operation. Woher nimmt er da noch die Frische, seine fast aufdringliche Unbeschwertheit?
Gysis Tipp: Vorzüge des Alters bewusst genießen
"Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen", wird Gysi am Ende der Lesung den Ein-Zeilen-Epilog aus seinem Buch zitieren. Bei 73 Jahren ist er angelangt, und noch schiebt er sein siebtes Leben, das Alter, vor sich her. Noch genießt er das Rampenlicht, die Bühne, den Applaus. Könnte er ohne? Darüber wäre zu sprechen gewesen an diesem Abend. Doch über weite Strecken bleibt zumindest dieser erste Teil der Doppellesung beim Geplauder, beim Smalltalk, bei Anekdoten.
Alles durchaus amüsant, nicht zuletzt seine juristischen Spitzfindigkeiten noch zu DDR-Zeiten. Aber wer ahnt, was dieser Kerl in seinem Leben an politischen und geschichtlichen Umbrüchen miterlebt und mitgestrickt hat, dürfte sich neben Unterhaltung durchaus mehr Substanz erwartet haben. Oder ist diese zur Schau getragene Leichtigkeit des politischen Seins gerade ein Stück Verarbeitung aller Beschwernisse?
Wie Gysi zur Identifikationsfigur für die Ostdeutschen wurde
Gysi erinnert an eine TV-Sendung in den frühen 90ern im Privatsender RTL: Von vier Teilnehmern sei er beschimpft worden, dann noch vom Moderator. In den neuen Bundesländern hat ihm das eine Solidarisierung beschert, als wäre er stellvertretend für ein halbes Land an die Wand gestellt worden. Oder wie Gysi im Interview mit dieser Redaktion sagte: "Die DDR-Führung wollte immer ein ostdeutsches Bewusstsein schaffen – was ihr nie richtig gelungen ist. Aber der Bundesrepublik ist es dann gelungen."
Auch an diesem Abend zeigt Gysi, dass es ihm an Selbstbewusstsein nicht fehlt und der Grat zur Selbstgefälligkeit schmal ist. Es bedarf schon einer Portion Chuzpe, um sich im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit mit Hinweis auf die eigene Biografie von Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) abzusetzen. Der habe, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, immer an den Schmied des eigenen Glücks geglaubt. Er, Gysi, dagegen kommt aus gut situierten bürgerlichen Verhältnissen und habe die Armutsbekämpfung gerade deshalb als politischen Auftrag verstanden. Nun gut.
Gemeinsam mit seinem Co-Autor auf Tour
Aus dem Buch gelesen wird an diesem Abend übrigens nicht. Gysi ist mit seinem Co-Autor Hans-Dieter Schütt als Gesprächspartner auf Tour, ein eingespieltes Tandem. Wobei Schütt – in den 80ern in der DDR Chefredakteur der "Jungen Welt" als Zentralorgan der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) und bis 2012 Feuilleton-Redakteur beim "Neuen Deutschland" – lediglich als Stichwortgeber in Erscheinung tritt. Dabei wäre für die Besucher interessant gewesen, wie Gysi es wirklich (aus)hält mit dem Alter. Mit der Angst vor der Einsamkeit, mit einem Leben ohne Politik.
"Die Pandemie hat mir diese Angst genommen", wird er später im Gespräch mit dieser Redaktion sagen. Zwangsläufig habe er festgestellt, dass ihn, den zweimal geschiedenen Vater dreier Kinder, Wochen ohne Abendtermine nicht zur Verzweiflung treiben. Im Gegenteil. Und dass er nun im Herbst tatsächlich nochmal für den Bundestag kandidiert: ein Politik-Süchtiger, der nach eigener Aussage private Freundschaften über Jahre vernachlässigt hat?
Gysi würde das vermutlich nie zugeben, seine Erklärung klingt nach Understatement wie Imagepflege: Er habe eigentlich nicht mehr antreten wollen, aber die Partei habe ihn darum gebeten. Man brauche seine außenpolitische Kompetenz in einer möglichen grün-rot-roten Koalition. Der Gerufene also, der auf dem roten Parteiteppich zur Kandidatur in seinem Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick schreitet, so wie er sich als Sechsjähriger frech mit dem Taxi nach Hause fahren ließ, weil man ihm leichtsinnigerweise die Gage für eine Kinder-Synchronsprechrolle direkt in die Hand gedrückt hatte.
Nein, dieser Gysi hat noch Lust auf Politik, das ist zu spüren. Und er wird fast zornig, wenn er auf die aktuelle Selbstzerfleischung seiner Linken blickt: "Das ist irre." Die frühere Fraktionschefin Sahra Wagenknecht wegen abweichender Positionen auszuschließen, sei "völlig daneben, das muss eine Partei aushalten". Dann lächelt Gysi wieder, ganz locker.