Bei all der Niedertracht, die derzeit aus dem Weißen Haus in Washington in die Welt schwappt, gerät ein wenig in Vergessenheit, dass die Welt Amerika auch einige unverwüstliche Lebensweisheiten verdankt. Zum Beispiel diese: "Never meet your heroes". Etwa: Lerne bloß niemals deine Idole persönlich kennen. Heißt: Berühmtheiten, Sportler oder Künstler, die sich mit ihren Siegen, Rekorden, ihren Büchern, Songs, auf der Leinwand oder auf der Bühne unsere Verehrung erworben haben, halten im richtigen Leben – als Menschen – selten, was ihr Werk verspricht.
Müssen sie auch nicht. Sollen sie auch nicht. Es ist nun mal so: Es kann einer ein ausgemachter Kotzbrocken sein und trotzdem einen großartigen Roman oder eine überwältigende Sinfonie schreiben. Unsere Verehrung, wenn es denn Verehrung sein muss, sollte also zuallererst dem Werk gelten. Parade-Beleg für diese These ist Shakespeare: Diese Theaterstücke und Gedichte werden immer ein unschätzbarer kultureller Schatz bleiben – wie auch immer ihr Verfasser charakterlich drauf war (dass es ihn tatsächlich gegeben hat, scheint inzwischen immerhin gesichert). Anders gesagt: Kein noch so ungünstiges biografisches Forschungsergebnis über die Person William Shakespeare kann dem Genie der Werke "Hamlet", "Romeo und Julia" oder "Macbeth" etwas anhaben.
Unser Künstlerbild ist von der Romantik geprägt
Der Impuls, neben oder mit dem Werk auch dessen Schöpfer zu würdigen, sitzt dennoch tief. Wir wünschen uns einfach, dass einer, der so unsterbliche Verse hervorgebracht hat wie "O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, der immerfort in seiner Scheibe wechselt, damit nicht wandelbar dein Lieben sei!" ein warmherziger, geistreicher und selbstloser Mensch war. Einer, der – wie wir gewöhnlichen Sterblichen auch – mit Liebeskummer und Enttäuschungen fertig werden musste und diese dann in wunderbare Kunst umgemünzt hat. Das hätte etwas Tröstliches.
Shakespeare und seine Zeitgenossen dachten übrigens mitnichten so. Sie wollten vor allem die Theater vollkriegen und möglichst viel Geld verdienen. Und haben dem Publikum deshalb das serviert, wofür es bereit war, Eintritt zu bezahlen. Unsere heutige Sicht ist wohl eher eine Hinterlassenschaft der Romantik, die ja erst den Typus des genialen Künstlers hervorgebracht hat, dessen Kunst ihre Wurzeln im eigenen Sehnen und Leiden hat und in dessen Werk deshalb Persönlichkeit und Fantasie untrennbar zusammenfließen.
Die meisten verehrten Genies waren keine besonders netten Menschen
In den meisten Fällen ein Missverständnis. Natürlich gibt es die Künstler, die im eigenen Leben den in ihren Werken formulierten Werten oder Idealen nacheifern. Doch der künstlerische Schaffensprozess als solcher ist weit komplexer. Zwar kann niemand vollkommen losgelöst von der eigenen Person und deren Wahrnehmungsmöglichkeiten schöpferisch tätig sein, dennoch ist es müßig, von außen immer beziffern zu wollen, was und wie viel Autobiografisches wo hinein geflossen ist.
Vereinfacht gesagt: Die meisten hochverehrten, mit Denkmälern gewürdigten Genies, waren keine besonders netten Menschen. Beethoven war ein giftiger (in seinem galligen Humor zugegeben recht geistreicher) Grantler, Goethe ein rücksichtsloser, geldgieriger, egoistischer Selbstdarsteller, der sein Umfeld ausnutzte, wo er nur konnte. Richard Wagner war ein ruhmsüchtiger Verschwender und glühender Antisemit, der den jüdischen Dirigenten Hermann Levi nach Kräften demütigte und mit seiner Schrift "Das Judenthum in der Musik" viel Schaden anrichtete.
Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling (1865-1936, "Das Dschungelbuch") war, ganz Kind seiner Zeit, ein strammer Imperialist mit, gelinde gesagt, sonderbaren Ansichten über die Überlegenheit des Weißen Mannes in der Welt. Picasso benutzte seine Frauen als Inspirationsquelle und ließ sie fallen, wenn sie diese Funktion nicht mehr ausüben konnten. Und die Liste der Delikte und Verurteilungen die der französische Schriftsteller Jean Genet (1910-1986, "Die Zofen"), ein notorischer Dieb und RAF-Sympathisant, im Laufe seines wilden Lebens anhäufte, ist ziemlich eindrucksvoll.
Künstlerisches Genie kann nie ein Freibrief sein
Nun stellt sich mit dem Fall Michael Jackson einmal mehr die alte Frage: Kann, muss oder darf man Künstler und Werk trennen? Zehn Jahre nach Jacksons Tod hat der Dokumentarfilm "Leaving Neverland" die alten Pädophilie- und Missbrauchsvorwürfe um neue, konkretere erweitert. Und auch Michael Jackson ist kein Einzelfall, weitere prominente (und teilweise inzwischen verurteilte) Beschuldigte hat die #metoo-Bewegung benannt, unter ihnen Kevin Spacey, Bill Cosby oder R. Kelly.
Dass Gemeinheiten oder gar Straftaten selbstverständlich strafrechtlich und/oder gesellschaftlich geahndet gehören, versteht sich von selbst – künstlerisches Genie kann nie ein Freibrief welcher Art auch immer sein. Abgesehen von dem Dauerskandal, dass dennoch immer wieder Stars über Jahrzehnte mit massiven Übergriffen durchkommen, obwohl diese nicht nur in ihrem engeren Umfeld bekannt sind (was zum Teil sicher auch oben beschriebenen Verehrungsmechanismen geschuldet ist), wird nun in der öffentlichen Diskussion vor allem eine Frage gestellt: Kann man vor dem Hintergrund neuen (oder neu publik gewordenen) Wissens noch deren Songs hören oder Filme anschauen?
Boykotte haben heute vor allem symbolische Bedeutung
Etliche Radiostationen haben bereits Michael-Jackson-Songs aus ihrem Programm gestrichen, Kevin Spaceys Serie "House of Cards" läuft ohne ihn weiter, und für "Bill Cosbys Familienbande" scheint es in Deutschland derzeit keine Sendetermine geben. Nun ist es angesichts eines gigantischen Angebots an elektronischer Unterhaltung jeglicher Art nicht allzu schwer, auf die eine oder andere Fernsehserie zu verzichten. Es wäre bei allem, was man inzischen über ihn weiß, wohl auch eher sonderbar, beim Zappen unvermutet auf Bill Cosby in der Rolle des einfühlsamen Gynäkologen und liebenden Familienvaters Cliff Huxtable zu stoßen. Kevin Spacey hingegen scheint als Person seiner Serienfigur (einem skrupellosen, vollkommen amoralischen Politiker) um einiges näher zu stehen, als gedacht. Dennoch: Auch ohne ihn gibt es genügend Spannendes anzuschauen.
Freilich haben Boykotte und Absetzungen heute vor allem symbolische Bedeutung. Wer Cosby, Spacey, Jackson und Co. sehen oder hören will, hat dank des Netzes oder des Online-Versandhandels alle Möglichkeiten. Und hier liegt der Schlüssel: Letztlich wird jeder Hörer, Zuschauer, Konsument selbst entscheiden müssen, ob für ihn das Werk größer ist als dessen Schöpfer.
Manchmal lohnt die Betrachtung einzelner Werke
Bei Wagner, Goethe, Picasso und eben auch Michael Jackson ist das für sehr viele Menschen der Fall. Das ist das Wesen der Kunst: Wenn sie uns berührt, wird sie Teil unseres Lebens, unserer Persönlichkeit. Wir wachsen mit ihr auf, durchleben (und überleben) mit ihr Lebenskrisen, erschließen mit ihr neue Welten. Auch deshalb leiden wir so darunter, wenn die Schöpfer dieser Kunst uns enttäuschen.
Manchmal aber lohnt es, sich einzelne Werke näher anzuschauen. In "Heal the World" etwa ruft Michael Jackson dazu auf, die Welt durch Liebe zu heilen. Klingt nach allem, was passiert ist, heute eher sonderbar. "Man in the Mirror" dagegen: "If you want to make the world a better place / Take a look at yourself and then make the change" – "Wenn du die Welt zu einem besseren Ort machen willst, schau dich selbst an und sorge für Veränderung". Hat für ihn selbst wohl nicht funktioniert, taugt als allgemein gültige Maxime aber weiterhin.