„Wahre Freundschaft ist, wenn man stundenlang über Sachen reden kann, die man schon tausendmal besprochen hat. Teile das, wenn du auch so einen Freund hast!“
Nein, das ist nicht von Shakespeare. Das ist einer der Kalendersprüche, wie sie seit Jahren die sozialen Netzwerke überschwemmen. Viral, wie man so sagt. Viral kommt von Virus, kein schlechter Begriff also für Prozesse, die durchaus infektiöse Züge annehmen können. Immerhin: In dem Wort – im Gegensatz zum Spruch – steckt ein ganz klein wenig von dem Sprachwitz, der jeden Shakespeare-Text kennzeichnet.
Was sich da jeden Tag aufs Neue epidemisch um den Globus verbreitet, ist allerdings selten besonders erhellend. Im Gegenteil, das meiste ist so banal, dass man den Verbreitern, die ja offensichtlich ein dringendes Bedürfnis nach Erbauung haben, am liebsten raten möchte, sich doch ein wenig mehr mit Shakespeare zu befassen.
Shakespeare, an diesem Samstag vor genau 400 Jahren gestorben, war schon viral, als kein Mensch wusste, was ein Virus ist – weder im biologischen noch im übertragenen Sinne. Sein Werk ist das bislang meistverbreitete der Welt. Geschätzte zwei bis vier Milliarden Mal haben sich seine Bücher verkauft, seit 1623, sieben Jahre nach seinem Tod, das berühmte First Folio erschien, die erste Werkausgabe mit 36 Stücken.
Wir alle zitieren ihn dauernd, meist, ohne uns dessen bewusst zu sein. Mit Sprüchen wie „Jedes Ding hat seine Zeit“ – „Der Rest ist Schweigen“ – „Ende gut, alles gut“ oder „Verlorene Liebesmüh“. Oder, gerne von Kulturskeptikern missbraucht: „Mehr Inhalt, weniger Kunst!“
Die Aufforderung, sich mehr mit Shakespeare zu befassen, riecht dennoch verdächtig nach Bildungsdünkel.
Wenn sich all die schlauen Sprüche mühelos googeln lassen, warum sollte man dann seine Abende damit verschwenden, Leuten zuzuschauen, die sich, eingewickelt in Mullbinden, in Kunstblut wälzen und unverständliches Zeug brüllen? Oder, schlimmer noch, Männer mittleren Alters in Strumpfhosen, die, einen Totenkopf in der Hand, an die Rampe treten und irgendwas über den Sinn des Lebens brabbeln?
Was haben wir zu schaffen mit einem dänischen Prinzen, dem sein kürzlich verstorbener Vater als Geist erscheint und ihn auffordert, seinen Tod zu rächen? Was mit irgendwelchen Intrigen an irgendwelchen Königshöfen, an deren Ende sowieso alle tot sind? Was mit einem Geldverleiher in Venedig, der darauf besteht, dass einem säumigen Gläubiger vertragsgemäß „ein Pfund Fleisch“ als Zahlung aus dem Leib geschnitten werde? Was mit der absurden Feindschaft zweier Veroneser Familien, die zwar zwei Jugendliche in den Tod treibt, aber ansonsten doch eher outdatet ist, wie Til Schweiger sagen würde?
Es gibt unendlich viele Gründe, das Werk des William Shakespeare näher kennenlernen zu wollen. Einer ist zum Beispiel, dass keine Handlung so abstrus sein kann, dass sie Shakespeare, geboren – vielleicht – am 23. April 1564 in Stratford-upon-Avon, gestorben ebenda genau 52 Jahre später, nicht noch dazu taugte, grundlegende Einsichten in das Leben an sich zu eröffnen. Einsichten, die weiterhelfen.
Ob Verona, Illyrien, Venedig, Helsingör oder antikes Rom: Die Schauplätze mögen weit weg sein – zeitlich wie räumlich –, sie verhandeln immer zeitlose Fragen und funktionieren deshalb auch in unserer Gegenwart so gut. Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Übermut, Eifersucht, Neid, Machtgier, Angst, Schuld oder Rachsucht haben sich über die Jahrtausende vermutlich nicht grundlegend verändert. Und niemand kann die Gesetzesmäßigkeiten dieser Regungen so schlüssig, spannend und vor allem geistreich in Szene setzen wie Shakespeare. Ihm ist, um einen antiken Vorgänger, den römischen Lustspielautor Publius Terentius Afer zu zitieren, nichts Menschliches fremd. Nicht umsonst sind seine Stücke unzählige Male verfilmt und adaptiert worden, einige gibt es als Oper, Ballett und Musical.
Shakespeares London ist ein dreckiger, lauter, gefährlicher Ort. Messerstechereien und Schwertkämpfe, wie sie – übrigens mit echten Waffen – auf der Bühne stattfinden, gibt es dauernd auch in den Straßen. Das Leben der einfachen Leute ist hart und sehr oft kurz. Immer wieder bricht die Pest aus. Das Land ist dauernd im Krieg – gegen Spanien, gegen Irland, gegen Frankreich. Auf den Meeren lauern Piraten, manchmal kommen sie sogar an Land und versklaven ganze Küstendörfer.
Es ist also einiges geboten. Für den Theaterunternehmer, der Shakespeare als Teilhaber des Globe Theatre und Leiter der Truppe „Lord Chamberlain?s Men“ auch ist, heißt das vor allem eines: Es reicht nicht, ein tägliches Tschingderassabum zu veranstalten. Natürlich muss auf der Bühne geliebt, gefochten und gemordet werden. Aber offensichtlich will das Publikum mehr. Es will Pathos, es will Poesie, es will tieferen Sinn.
Shakespeare liefert jede Menge tieferen Sinn. Nicht unbedingt im Sinne von Sinn des Lebens, obwohl sich Macbeth da (frei übersetzt) recht eindeutig äußert: Das Leben ist ein Märchen, erzählt von einem Idioten, voll von Lärm und Wut, das nichts bedeutet.
Shakespeare versorgt uns mit Geschichten, Figuren, Schicksalen, die unser Herz und unsere Seele berühren. Hamlet zum Beispiel, der unglückselige dänische Prinz. Er bekommt eine unlösbare Aufgabe gestellt und muss dauernd unmögliche Entscheidungen treffen. Er kann nicht gewinnen, sondern höchstens überleben, und auch das nur, wenn er seine tiefsten Überzeugungen verrät. Aber das bringt er nicht fertig. Für ihn gibt es nur den (freilich erst zu findenden) richtigen Weg. Die Figur lässt sich in unendlich vielen Facetten denken. Als grüblerischer Zauderer, als moralischer Fundamentalist. Als Gutmensch. Als Egoist. Seine Nöte aber sind in jeder Version nur allzu nachvollziehbar.
Oder Heinrich V. Wer brächte es fertig, sich seiner flammenden Kampfesrede zu entziehen: „Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt, / Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig, / Der heutge Tag wird adeln seinen Stand. / Und Edelleut in England, jetzt im Bett, / Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen, /Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht, / Der mit uns focht am Sankt Crispinustag.“
Oder Romeo und Julia. Wann wurde Liebe je poetischer beschworen? „O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, / der immerfort in seiner Scheibe wechselt, / damit nicht wandelbar dein Lieben sei!“
Oder Shylocks Anklage im „Kaufmann von Venedig“, ein humanistischer Appell gegen jegliche Form von Diskriminierung: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“
Ernst Lubitsch hat die Passage genau in dieser Funktion in seiner genialen Komödie „Sein oder Nichtsein“ aus dem Jahr 1942 eingesetzt. Der Film gibt Hitler und die Nationalsozialisten der Lächerlichkeit preis, ohne die Brutalität ihrer Taten und das Leid der Opfer auch nur im Geringsten zu verharmlosen. Ein Meisterwerk. Shakespeares Worte haben wesentlichen Anteil daran.
Das ist noch so eine Eigenschaft von Shakespeares Werk: Es bereichert nicht nur, es rettet Leben. Neil MacGregor beschreibt in seinem 2013 erschienenen Buch „Shakespeares ruhelose Welt“ ein besonders bewegendes Beispiel. Unter den Häftlingen der südafrikanischen Gefängnisinsel Robben Island zirkulierte 1977 eine getarnte Gesamtausgabe von Shakespeares Werken, die Robben Island Bible, heute im Museum. Deren Besitzer Sonny Venkatrathnam bat alle Insassen, eine ihnen besonders wichtige Passage anzustreichen. Nelson Mandela wählte folgende Zeilen aus dem „Julius Cesar“: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. / Von allen Wundern, die ich je gehört, / Scheint mir das Größte, dass sich Menschen fürchten, / Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, / Kommt, wann er kommen soll.“