Man hatte ja zwangsläufig misstrauisch werden müssen im vergangenen Herbst, als Dirigent Thomas Hengelbrock berichtete, das gesamte Elbphilharmonie-Orchester habe nach der ersten Elbphilharmonie-Probe ob der überwältigenden Akustik geweint vor Glück. Wollte da nicht ein Mann der ersten Stunde, dem keiner etwas entgegensetzen konnte, die Deutungshoheit übernehmen? Zumal keiner nach Bau- und Kosten-Desaster noch einen Unglücksfall gebrauchen konnte. Aber dann mehrten sich die Stimmen der Begeisterung. Dirigenten-Kollege Kent Nagano etwa, der ein wenig rumgekommen ist in den Konzertsälen dieser Welt, griff ebenfalls zu Superlativen, uneingeschränkt.
Und nun war also am Mittwochabend in Festakt und Festkonzert gleichsam die Stunde der öffentlichen Wahrheit in Sachen Elbphilharmonie-Akustik gekommen. Das Haus als Sehenswürdigkeit ist seit Wochen schon festgeschrieben, das Haus als Hörenswürdigkeit noch nicht. Und die ersten, man muss schon sagen furztrockenen Orchesterschläge aus Beethovens „Prometheus“-Ouvertüre, gaben noch nicht hinreichend Entwarnung.
Aber hernach, nach vier Stunden mit großen Kompositionen aus mehr als vier Jahrhunderten Musikgeschichte (und nach ausreichend hehren Fest-Worten über demokratische Kultur, die Macht der Musik, gemeinschaftlichen Bürgersinn und humanistische Verpflichtungen) war dann doch unter dem gläsern gewellten Dach der Philharmonie, das einst so viel Zwist hervorgerufen hatte, allgemein klar: Die Akustik – aufwendig von dem Japaner Yasuhisa Toyota berechnet, ist ein Wurf.
Hier hört man alles, hier bleibt jedes Tönchen vernehmbar. Die Akustik, eher bläser- als streicherfreundlich, ist licht und klar. Es herrschen Transparenz und Brillanz – offenbar weiterhin eine internationale Wunschklang-Tendenz. Ohne langen Nachhall trägt die Musik betörend. In diesem Rund gibt es weder optisch große Unterschiede zum Zentrum des Geschehens noch stark unterschiedliche Distanzen vom mittigen Podium zur weißen Saalhaut – unterschiedliche Distanzen also, die den Schall zeitversetzt reflektieren könnten. Und glaubt man Yasuhisa Toyota, dessen Verpflichtung für den künftigen neuen Münchner Konzertsaal bereits feststeht, dann wird die Akustik der Elbphilharmonie sogar noch wachsen. Indem das im Saal verbaute Holz weiter austrocknet.
Das Getuschel nebenan
Freilich: Wo man alles besser hört, hört man auch das besser, was man nicht so genau hören möchte. Das Getuschel des Ehepaars ein paar Reihen weiter. Kiekser im Blech. Dass wohl doch – um der Balance willen – ein paar mehr Violinen von Vorteil wären. Wackler, rhythmische Unebenheiten. All das wird eben auch offengelegt; hier wird jedes Orchester eine Schippe an Präzision draufzulegen haben, einschließlich NDR Elbphilharmonie Orchester, das Hausensemble, das auf Dauer deutlich besser werden muss, um diesem Saal und seiner Akustik wirklich gerecht zu werden. Die durchsichtige Akustik ist ein Segen und eine enorme Herausforderung gleichermaßen. Welche Eindrücke bot auch diesbezüglich das Mammut-Eröffnungskonzert mit seinem so klug wie durchaus provokant zusammengestellten Programm?
Mit apartem Hintersinn
Viel Neue Musik war zu vernehmen, viel Musik auch erkennbar mit Hamburg-Bezug, viel Musik, die als verbrämte Liebeserklärung an „Elphi“, quasi die Braut des Abends, verstanden werden konnte, einige Musik auch mit apartem Hintersinn zu deren Entwicklungsgeschichte. Es tönte aus dem Orchester, es antwortete kammermusikalisch von den Rängen. Dieser Abend, bei dem Alte und Neue Musik ohne Pause ineinander verschmolzen, geriet zum Fest der Sinnlichkeit, das demonstrierte: Hier ist an musikalischer Unmittelbarkeit nahezu alles möglich.
Das Finale der Zweiten von Brahms, der ja schnell mal dick und breit wirken kann, näherte sich der Helligkeit von Mendelssohn an (Ouvertüre „Ruy Blas“), und Star-Countertenor Philippe Jaroussky entflammte knabenhaft-weich mit Renaissance-Musik von Caccini und Cavalieri/Archilei für die Vollendung des neuen Hamburger Wahrzeichens mit seinen sich ins Freie wölbenden Fassadenscheiben („Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum und Deine Brüste gleichen den Weintrauben“).
Premiere für die Orgel
Präsent, durchaus virtuos erklang Rolf Liebermanns „Furioso“-Orchesterattacke, an die Nieren gehend Bernd Alois Zimmermanns Orchesterprelude „Photoptosis“, in dem die Orgel mit ihren 4765 Pfeifen aus der Taufe gehoben wurde – und in dem für das extrem knifflige Trompetensolo ein Orchestermusiker des Bayerischen Rundfunks aushalf.
Dann, im zweiten Teil des Festkonzerts, ließen Konzentration und Kondition ein wenig nach. Das Vorspiel zu Richard Wagners „Parsifal“, das dem Abend das Motto gab („Zum Raum wird hier die Zeit“), bot zwar schöne, in die Höhe wachsende Klangsäulen, doch kaum musikalisches Charisma. Wolfgang Rihms „Reminiszenz“ an den Hamburger Schriftsteller (und Orgelbauer) Hans Henny Jahnn – eine Uraufführung – blieb in ihrer Grundhaltung erstaunlich elegisch, den Jahnn- und Peter-Huchel-Text eher befragend als ausdeutend. Rihm scheint im Alter ähnlich abgeklärt zu komponieren wie vor ihm Mahler, Strauss, Henze.
Beethovens Neunte
Und schlussendlich kam, was man vermuten, aber bis zum Abend nicht genau wissen konnte, das Finale von Beethovens Neunter mit ihrem Schiller-Text, der bezüglich der Elbphilharmonie nicht anders als doppeldeutig zu hören sein kann: „Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum . . . Wem der große Wurf gelungen . . . Wer ein holdes Weib errungen . . . Seid umschlungen Millionen . . .“
Hanna-Elisabeth Müller, schnell noch als Einspringerin eingeflogen, sang den Sopran-Part ebenso hinreißend wie Pavol Breslik die Tenor-Partie, und auch der Chor des Bayerischen Rundfunks bewies seine bekannte Klasse. Allein: Das Elbphilharmonieorchester und Hengelbrock waren mehr mit Feuereifer an der Sache als mit ernster Emphase.
An das Folgende aber muss unbedingt noch erinnert werden, weil es den Bogen schlägt zu diesem Tag, der in Standing Ovations endete: Als der Dirigent Christoph von Dohnanyi 2011 gefragt worden war, wozu man die Elbphilharmonie brauche, konterte er hanseatisch-trocken: „Wozu brauchen wir Beethovens Neunte?“