Im Foyer zum Kleinen Saal der Hochschule für Musik Würzburg sind etliche kleine und mittelgroße schwarze Tafeln aufgebaut, auf denen sich silbergraue Buchstaben, Zahlen und ornamentale Elemente befinden. Von Weitem wirkt das Ganze wie fein gesponnene moderne Kunst oder eine technische Bauanleitung. Tritt man näher, erkennt man jedoch mathematische Gleichungen, Textstellen aus der Bibel, musikwissenschaftliche Hinweise.
Jahrelange Forschungsarbeit hat in Professor Dr. h. c. Christoph Bossert die Überzeugung reifen lassen, dass es sich bei Johann Sebastian Bachs Schaffen um ein System handelt. Sowohl das Gesamtwerk der Kompositionen für einen bis vier Ausführende wie auch die zyklisch angelegten Konzeptionen hat er untersucht und in 14 Werkeinheiten zusammengefasst. Über Gesamttaktzahlen und Verknüpfungen gelangt er zu „schlüssigen numerischen Aussagen, Zahlenbildern und Zahlenaussagen, die biblischen Ursprungs sind“.
Eine rudimentäre Spur
Diese Erläuterung ist einer 57-seitigen wissenschaftlichen Abhandlung vorangestellt, mit der Bossert im Rahmen eines Studientags an der Hochschule die Besucher in die Ausstellung „14 Zahlenbilder von und zum instrumentalen Schaffen von Johann Sebastian Bach für 1 bis 4 Musiker“ entließ. Hier hat er die Ergebnisse seiner Forschungen gemeinsam mit Simon Bossert in Schautafeln umgesetzt.
Nach einer fein gestalteten musikalischen Einstimmung durch ein Vokalensemble erläuterte Bossert kurz, dass die entdeckte Spur noch rudimentär, aber eröffnet sei. Indizien sprächen für einen Faden, der sich von frühen Arbeiten Bachs bis hin zur „Kunst der Fuge“ spinne. Die Zahlenbilder wirken ästhetisch und tragen Überschriften wie „Der Kelch des Heils“, „Vox Christi“ oder „Ein Baum“, bei manchen springt als erstes die grafische Struktur ins Auge, so ein Kreuz oder ein bugartiges Tor.
Hintergründe, mathematische Gleichungen und theologische Bezüge legte Bossert in einem Film dar. Bild Nr. 8 beschäftigt sich zum Beispiel mit Bachs sechs Cellosuiten, die der Forscher als Werkeinheit 13 bezeichnet. Aus der Summe der Werkeinheiten eins bis 13 hat Bossert die Kubikzahl 5³ ermittelt. Seine Deutung weist zunächst auf die fünf Wundmale Jesu, die Drei als Aussage über die Heiligkeit der Wunden, die 53 als Hinweis auf Jesaja 53, in dem es um das Lied vom Gottesknecht geht. Dann eine Gleichung, eine Komplementär- und Primzahl, diese durch 30 geteilt – schließlich landet Bossert beim Judaslohn der 30 Silberlinge und Psalm 109.
Die Ewigkeit der Seele
Erstaunlich auch Zahlenbild 10: 360 Werke bilden die Werkeinheiten eins bis zwölf. 360 ist auch die Winkelsumme des Vollkreises. Und so ordnet Bossert die Werkeinheiten, mit denen er auch zwölf Apostel assoziiert, in einem Kreis an. Will man diesen in zwei Halbkreise zu je 180 Werken unterteilen, gelingt das nur, wenn man nicht von einer senkrechten Achse ausgeht, sondern diese um minus 22 Grad neigt. Dies entspreche der Neigung der Erdachse, so der Kirchenmusiker, und folgert: „Unser Dasein ist ein Fragment, aber der Horizont unseres Seins ist die Ewigkeit der Seele. Es ist unsere Bestimmung, ins Vollendetsein überzugehen.“
Als Organist sagt Bossert, er könne ein Werk von Bach nur mit angenehmem Gefühl spielen, wenn er den Schlüssel zum jeweiligen musikalischen Rätsel gefunden habe. Zum Abschluss des Abends demonstrierte er denn auch im schwach besuchten Großen Saal an der Klais-Orgel seine Erkenntnisse in der musikalischen Praxis: Johann Sebastian Bachs „Das Wohltemperierte Klavier“ Teil 1 erklang vom Tempo her mehrfach überraschend, jedoch aussagestark, analytisch, differenziert und farbenreich.