
Gibt es Geigen-Hypochonder? Also Menschen, die dauernd glauben, irgendwas an ihrem Instrument stimme nicht und müsse sofort gerichtet werden? "Ja, natürlich", sagt Markus Lützel und zuckt die Schultern, als hätte man ihn etwas völlig Banales gefragt, etwa, ob er Marmelade mag. Dann erzählt er von dem berühmten Professor, der vor jedem Konzert kam und seine Geige untersucht haben wollte. Nur zur Sicherheit.
Markus Lützel, 61, ist seit bald 30 Jahren Geigenbauer in Würzburg, seit genau 20 Jahren hat er seine Werkstatt in der Neubaustraße. Hierher kommen Menschen, um Instrumente zu leihen, zu kaufen oder reparieren zu lassen. Der berühmte Professor ist kein Einzelfall. Menschen, die ihr Leben so eng an eine so existenzielle Tätigkeit wie das Musizieren knüpfen, hängen naturgemäß an dem Gegenstand, der ihnen das ermöglicht. Der Geigenbauer wird dabei zwangsläufig zum (Lebens-)Berater, nicht selten zum Seelsorger. Lützel drückt es freilich sachlicher aus: "Man hat ja nicht nur mit den Geigen zu tun, sondern auch mit den Menschen."

Eine Geschichte aus der Anfangszeit in Würzburg illustriert das sehr schön: Ein guter Freund, der Medizin studierte, kam in Lernpausen regelmäßig auf einen Kaffee in die Werkstatt und wurde Zeuge vieler Kundengespräche. "Als er wegzog, hat er mir zum Abschied ein Psychologiebuch geschenkt", erzählt Markus Lützel und grinst.
Die Werkstatt sieht genau so aus, wie man sich eine Geigenbauwerkstatt vorstellen würde. Von der Decke hängen in dichten Trauben Geigen, Bratschen und Celli, an den Wänden drängen sich Kästen und Etuis. Auf den Werkbänken zerlegte Geigen, abzuziehende Griffbretter, zu bespannende Bögen.
Der Geigenbauer bewegt sich in der Enge mit der sicheren Eleganz eines Tänzers
Wer den großzügigen Vorraum mit dem pyramidenförmigen Oberlicht verlässt, begibt sich in ein nach Holz und Harz duftendes Labyrinth schmaler Wege. Besucher legen unwillkürlich die Arme an, um nur ja kein wertvolles Stück anzurempeln oder gar umzuwerfen. Der Geigenbauer hingegen bewegt sich hier mit der sicheren Eleganz eines Tänzers. Etwa zur chromblitzenden Profi-Kaffeemaschine im dunklen Eck zwischen Säule und Treppe, mit der er einen Cappuccino zaubert, wie er in Rom oder Mailand nicht besser sein könnte.

Auf die Frage, ob er denn von jedem Teil wisse, wo es sei und wem es gehöre, antwortet er mit derselben Gelassenheit: "Ja, natürlich. Ich weiß genau, zu wem welches Instrument, welcher Bogen gehört. Ich vergesse manchmal vielleicht einen Namen, aber nie eine Geige."
Auch die Geschichten, die sich mit den Instrumenten verbinden, vergisst Markus Lützel nicht: Die der Berufsmusikerin etwa, die immer noch ihre erste 4/4-Geige spielt, also das erste Instrument in voller Größe, das sie als Schülerin bekommen hatte. "Es ist eine ganz ordentliche Geige aus Mittenwald, aber die Musikerin könnte durchaus eine bessere gebrauchen", sagt Markus Lützel.
Es gibt Musiker, die ständig Neues wollen, und welche, die jede Veränderung fürchten
Aber die Geigerin gehört zu einer ziemlich typischen Gruppe Musikerinnen und Musiker: Die möglichst wenig verändert haben wollen. "Es gibt die, die gerne immer wieder was Neues ausprobieren. Und es gibt die, für die jede Änderung bedrohlich ist. Da sind schon neue Saiten ein Eingriff. Von einem neuen Steg gar nicht zu reden."
Manchmal aber muss es sein. Das musste auch die polnische Geigerin einsehen, die bereits bei zwei anderen Geigenbauern gewesen, mit deren Arbeit aber unzufrieden war. Nur widerwillig überließ sie Markus Lützel ihr Instrument. Und rief schon eine Stunde später in der Werkstatt an. "Sie wollte das Ganze abblasen und fragte, ob ich schon mit der Reparatur angefangen hätte", erzählt der Geigenbauer. Er hatte, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. "Sie war dann sehr zufrieden."

Musikinstrumente sind Familienmitglieder. Manchmal auch solche, mit denen man nicht so gut auskommt. Wie zum Beispiel der junge Solist mit der Stradivari-Geige, die ihm die Deutsche Stiftung Musikleben als Stipendium zur Verfügung gestellt hatte. Stradivaris können bekanntermaßen widerborstig sein. Er gab sie zurück, und sie ging – wie üblich wiederum zeitglich begrenzt – an eine junge Geigerin. Und die bat Markus Lützel um Hilfe.
Der veränderte den Winkel des Halses zum Korpus und setzte einen neuen Steg auf – und schon klappte es. "Du brauchst lange, bis du so ein Instrument anfassen darfst", erzählt Markus Lützel. Aber diese Bewerbungsphase ist lange vorbei – Kundinnen und Kunden kommen von weit her, um dem Geigenbauer ihre hölzernen Familienmitglieder anzuvertrauen.
Nicht jedes Instrument passt zu jedem Typ Musiker oder Musikerin
Übrigens: Der Eingriff in die Stradivari war zwar, wenn auch keine Routine, so doch durchaus nicht ungewöhnlich: "Jedes gute Instrument ist über die Jahrhunderte immer wieder umgebaut worden. Die Musik hat sich verändert, die Säle wurden größter, und so musste auch der Ton größer werden."
Und dennoch passt nicht jedes Instrument zu jedem Typ Musiker oder Musikerin. Wenn die Menschen in seiner Werkstatt Geigen oder Celli ausprobieren, sieht und hört Markus Lützel sofort, was gebraucht wird. Ob jemand eher zupackend spielt oder eher sanft. Ob jemand eher filigrane Barockmusik macht oder lieber satte Romantik. Dann pflückt er fast ohne hinzusehen ein Stück aus einer der Instrumententrauben und sagt: "Hier, probier mal die!"

Klingt ein bisschen nach der Szene bei "Harry Potter", als der junge Zauberer sich seinen Zauberstab aussucht. Oder eben umgekehrt. Ist es hier auch so? Findet das Instrument den Musiker und nicht der Musiker das Instrument? Markus Lützel winkt ab: "Das wäre romantisiert. Meine Aufgabe ist die Hilfe bei der Suche. Mehr nicht."
Eine Geigenbauwerkstatt ist auch sonst kein Elfenbeinturm. Gesellschaftliche Entwicklungen und Krisen bekommt auch Markus Lützel zu spüren. Etwa dass junge Instrumentalistinnen und Instrumentalisten nur dabeibleiben, wenn sie die richtige Unterstützung im Elternhaus bekommen. Was nicht immer der Fall ist. Zu viel Druck kann ebenso schädlich sein wie zu viel Gleichgültigkeit.
Auch die Corona-Lockdowns haben sich bemerkbar gemacht. Freiberufliche Musikerinnen und Musiker konnten sich plötzlich keine Reparaturen leisten und brachten ihre Instrumente erst wieder, als sie wieder öffentlich spielen und Geld verdienen durften. "Und dann musste alles ganz schnell gehen."