Selten, dass im Ballett mit seinen formelhaften Umgangsformen die Anziehung und schließlich Liebe zwischen zwei Figuren solch spürbare und glaubhafte Ausstrahlung bekommt. In „Cinderella“, Anna Vitas letzter Choreografie als Ballettchefin des Würzburger Mainfranken Theaters, die am Samstag Premiere hatte, begegnen sich mit der Titelheldin und dem Prinzen zwei Menschen, die einander auf Anhieb so anrührend zugetan sind, dass die Welt der Egoisten um sie herum vollkommen zurücktritt.
Das liegt zum einen an der Musik von Sergej Prokofjew, die diese Gefühle sehr fein und sehr sensibel ganz ohne Zuckerguss transportiert. Das liegt aber auch an der schlichten Zärtlichkeit, mit der die Choreografin Cara Hopkins und Leonam Santos zusammenbringt. Hopkins tanzt die nahezu pausenlose Titelrolle mit durch und durch ungekünstelter Eleganz, Santos gibt dem im Loft statt im Schloss residierenden Prinzen eine einnehmende Unbedarftheit, zumindest in Dating-Fragen. So ist es nur logisch, dass er in die Krallen einer durchgeknallten Online-Ehe-Anbahnerin gerät (als einzige in Spitzenschuhen: Caroline Vandenberg).
Akrobatik am Gehstock: die böse Stiefmutter
In Anna Vitas „Cinderella“ funktionieren zwei Ebenen gleichzeitig: die märchenhaft-skurrile, die Raum bietet für eine Fülle komischer und verblüffender Regieeinfälle, und die emotionale, die im Verlauf des Stücks ihrerseits überraschende Dimensionen offenbart. Was vor allem mit der Emanzipation der Titelfigur zu tun hat. In den ersten Bildern ist Cinderella eine grundsympathische junge Frau, aber nicht viel mehr als das Spielzeug ihrer Stiefmutter und ihrer Stiefschwestern. Letztere tanzen Davit Bassénz und Aleksey Zagorulko ganz in Rosa mit sichtlichem Vergnügen als gemeine Trampel, erstere gibt Kaori Morito als giftige Despotin.
Tänzerisch gesehen hat sie den komplexesten, weil paradoxen Part: Der Gehstock weist sie als alt und eingeschränkt aus, eine Anmutung die Kaori Morito über alle akrobatischen Sprünge hinweg aufrechtzuhalten vermag. Vorgeblich mangelnde Mobilität macht sie mit purer Bosheit wett, der Stock dient dabei eher als Waffe denn als Gehhilfe, etwa wenn sie Cinderella damit aufspießt wie ein Naturforscher ein bedauernswertes Insekt. Als Mutter ist sie eben nur stief statt richtig, wie Karl Valentin sagen würde.
Geradlinig erzählte Geschichte
Ihre eigenen Töchter behandelt sie freilich nicht viel besser, das Trio verbindet ehrliche und unterhaltsam ausgelebte Abneigung. Da mögen Drizellas und Anastasias Kreuze noch so breit sein, wenn die Mutter ihnen einen scharfen Blick zuwirft, spuren sie.
Für „Cinderella“ hat Anna Vita eine Mischung aus klarer, behutsam stilisierter Bewegungssprache, virtuosen Hebefiguren und Slapstick gewählt. So kann sie ihre Geschichte geradlinig und deutlich ausformuliert erzählen, und so verweben sich äußere Handlung, innere Bilder oder Traumsequenzen zu einem schlüssigen Ganzen.
Das Spiel mit belebter Materie
Anika Wieners hat dafür eine Bühne geschaffen, die den Technicolor-Charme der Fred-Astaire-Filme der 1940er Jahre atmet. Eine Assoziation, die sich bald als berechtigt entpuppt: Die Schuhe, mit denen Cinderella auf dem Ball Furore macht, sind Steppschuhe. Schuhe sind nun mal das Leitmotiv dieses Märchens, aber Balletttänzer tragen keine Schuhe, jedenfalls sieht Anna Vita weder Spitzenschuh noch Schläppchen als richtige Schuhe an, wie sie im Programmheft sagt. Die Musik mit ihrer rhythmischen Qualität und ihrem gelegentlichen Mäandern in Richtung Jazzharmonik jedenfalls stützt die Entscheidung.
Überhaupt Schuhe: Den Bühnenrand zieren 100 Paar Schuhe – weiß lackierte Exemplare aller Arten von der Sandale bis hin zum Wanderstiefel, dem Theater gespendet von Würzburgern nach einem Aufruf. Denn „Cinderella“ ist auch ein Spiel mit belebter Materie. Die Schuhe sind dafür das stärkste Symbol, aber auch die langen Stoffbahnen, die Cinderella in der Traumsequenz im wahrsten Sinne einbinden, die hypnotische Ausstrahlung der grell leuchtenden Smartphones oder die rollenden Kleiderpuppen, die – gekonnt gesteuert – tatsächlich eine komplette Ballgesellschaft suggerieren, fügen sich nahtlos ein.
Ensemble und Orchester in Einklang
Den Eindruck einer Inszenierung aus einem Guss trägt ganz wesentlich auch das Ensemble (Kostüme: Veronica Silva-Klug), etwa mit Zoya Ionkina, Bianca Hopkins, Camilla Matteucci und Caroline Vandenberg als Bräute oder Alessandro Giovine und Felipe Soares Cavalcante als Diener.
Und: die Musik. Marie Jacquot leitet das Philharmonische Orchester mit sehr viel Sinn für Prokofjews griffige, süffige, eingängige Partitur und für die Vorgaben der Choreografie. Vital und lustvoll tauchen die Streicher in die immer nur ganz leicht dissonant angefärbten Klänge, blitzsauber glänzen die Holzbläser in Momenten der Empfindsamkeit.
Das beinahe volle Haus applaudiert begeistert und stehend dann, als Anna Vita und ihr Regieteam die Bühne betreten.
Weitere Vorstellungen: 5., 13., 25., 30. Mai; 5., 8., 14. Juni, 14. Juli (19.30 Uhr); 20. Mai (15 Uhr). Karten: Tel. (09 31) 39 08 124 oder karten@mainfrankentheater.de