Erstmals ist mit Isabel Mundry eine Komponistin Artiste Étoile des Würzburger Mozartfests - also die Galionsfigur des Festivals. Die 59-Jährige ist Professorin an den Kunst- beziehungsweise Musikhochschulen in Zürich und München, ihre vielfach ausgezeichneten Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Tonschöpfungen. Für das Mozartfest 2022, das am 20. Mai beginnt, schreibt sie eine Auftragskomposition, außerdem kuratiert sie mehrere Konzertprogramme, für die sie wiederum Bearbeitungen und Zwischenmusiken verfasst.
Für das Zoom-Gespräch hat sich die Professorin nach einem langen Unterrichtstag mit einem Spritz auf die Dachterrasse der Zürcher Hochschule der Künste zurückgezogen. Mit einem Schwenk der Laptop-Kamera zeigt sie, wo ihre Wohnung liegt: in den grünen Hügeln oberhalb der Hochschule. Auf ihrem Bildschirm zeigt sie neueste Arbeiten, um zu veranschaulichen, wie sie beim Komponieren vorgeht. Was dabei deutlich wird: Isabel Mundry ist auf der ständigen Suche nach eigenen, schlüssigen Klangsystemen, mit denen sie sowohl sinnliche wie auch strukturelle Erfahrungen hörbar machen will.
Isabel Mundry: Das ist eine gute Frage. Ich überlege gerade, ob ich das generell unterscheiden kann. Als Komponistin bin ich natürlich immer auch Hörerin, die strukturell hört. Oder kannibalistisch, wie ich das ironisch nenne: Man achtet auf die Aspekte, die nah an den eigenen Fragen sind. Ich kann aber auch sehr gut nicht strukturell, also selbstvergessen hören. Hingabe ist mir absolut zugänglich. Und auch das interessiert mich beim Komponieren. Also: Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass ich das nicht trennen kann. Natürlich höre ich Mozart anders, wenn ich die Aufgabe habe, als Artiste Étoile mit ihm umzugehen. Dann ist das Hören mit einer bestimmten Fragestellung verbunden.
Mundry: Mein Herz schlägt sehr für die Alte und die ganz Alte Musik. Auch für oral überlieferte Kulturen, bei uns also die gregorianische Musik. Mozart interessiert mich wahrscheinlich am wenigsten dort, wo er der sinfonische Klassiker ist. Unglaublich interessant wiederum ist, dass Mozart das klassische Idiom immer wieder von innen sprengt. Und zwar nicht im Sinne einer radikalen Geste, sondern im Sinne einer Erfahrung. Das kommt in den Programmen vor, die ich zusammengestellt habe. Zum Beispiel beim Dissonanzen-Quartett: Da will einer mit einem Thema anfangen, und dann ist dieses Thema so voller Fragen. Man hat das Gefühl, das Stück braucht seine ganze Zeit, um mit diesem Anfang fertigzuwerden. Das ist etwas, was ich beim Komponieren auch suche: Dass man in und mit einem Stück etwas erlebt.
Mundry: Das wäre das Beethovensche Ideal, dass aus der Zelle das Ganze wächst. Mich interessiert aber mehr, dass aus diesen Gewächsen wieder ganz neue Zellen hervorkommen. Dass im Stück selbst ein neuer Status Quo entsteht. Das ist bei Mozart stärker ausgeprägt als bei Beethoven. Ich habe das Gefühl, dass er offener dafür ist, dass die Dinge, die sich vollziehen, das Ganze auch wirklich verwandeln.
Mundry: Für mich hat das auf jeden Fall etwas Magisches. Diese Erfahrung, dass die Intention plötzlich ausgehebelt wird, und Dinge geschehen.
Mundry: Es ist ein absolut utopischer Gedanke, dass wir jemals wieder eine Klangsprache haben werden wie die Tonalität. Aber es wäre schon erleichternd, wenn man klare Orientierungspunkte hätte. Nicht umsonst haben die tonalen Komponistinnen und Komponisten mehr in ihrem Leben geschrieben. Weil es einfach ein bisschen leichter ist. Ich dagegen frage mich: Was mache ich überhaupt hier, was ist die Idee dieses Stücks. Und vor allem: Was braucht diese Idee? Andererseits, wenn ich dann wieder daran denke, wie viele Skizzen Beethoven geschrieben hat – wahrscheinlich war Komponieren nie leicht.
Mundry: Die Gefahr im Zeitgenössischen, in diesem unendlich Offenen, ist die Indifferenz. Man macht etwas, könnte es aber auch irgendwie anders machen. Tatsächlich habe ich in den letzten drei Jahren ziemlich wenig komponiert. Weil ich meine musikalische Technik nochmal grundlegender reflektieren wollte. Ich habe sehr, sehr viel experimentiert. Im Grunde suche ich nach Verfahrensweisen, für die mir die Tonalität ein großes Vorbild ist: Es gibt Skalen, die identifizierbar sind. Es gibt Töne, die relevanter sind als andere, es gibt Modulationen. Auch wenn meine Skala 15 statt sieben Töne hat.
Mundry: Ja, ich arbeite gerade daran wie eine Anfängerin. Dabei geht es mir immer um narrative, also erzählerische Strukturen. Es ist ein anderes Schreiben, das viel Übung braucht. Und es ist auch mit einiger Angst verbunden. Es kostet Mut, und den habe ich nicht immer.
Mundry: Mozart selbst war sich seiner Sache nicht so sicher. Aber für uns steht er für kulturelle Identifikation. Die große Frage ist: Wer fühlt sich denn da so sicher? Wer kann denn Geborgenheit überhaupt annehmen? Vermutlich haben alle Menschen das Bedürfnis, in Gruppen geborgen zu sein, und da gibt es dann auch die Gruppe der Mozarthörerinnen und -hörer. Aber wie oft sieht man im Konzert Menschen im Programmheft blättern, anstatt in der Musik aufzugehen? Ich selbst habe schon sehr früh bei Mozart die Erfahrung gemacht, dass mich nicht die Themen am meisten interessieren, sondern die Übergänge. Die Gewissheit, die diese Musik suggerieren soll, prallt ab an meiner Erfahrung. Und dann fühlt man sich eigentlich schon ungeborgen.
Mundry: Ich versuche, Mozarts Werke so in andere Stücke einzubetten, dass Fragen entstehen. Meine Uraufführung beginnt mit dem letzten Ton des Mozartwerks davor. Ich möchte diese Musik aus dem Abgeschlossenen herausholen. Das Abgeschlossene gibt uns einerseits Sicherheit, gleichzeitig wissen wir, dass genau da die Dramen beginnen. Weil wir es dann doch nicht so fühlen können und allein zurückbleiben: Alle haben Heimat, aber ich habe sie nicht. Alle wissen, wie Mozart geht, aber ich nicht. Ich möchte demgegenüber dieses "Ich weiß es nicht" ins Zentrum stellen.
Mundry: Was ich auf keinen Fall wollte, ist Didaktik. Nach dem Motto: Ich vermittle Euch diesen Mozart jetzt mal neu. Dafür bin ich, glaube ich, zu schüchtern. Eigentlich möchte ich Räume kreieren, in denen man auch mal getrost vergessen darf, dass Mozart mit Bildung zu tun hat.
Vorverkauf: Es wird gebeten, das Mozartfest-Kartenbüro möglichst telefonisch zu kontaktieren: (0931) 372336. Die Karten kosten zwischen 5 und 205 Euro. Schüler und Studierende: 50 Prozent Ermäßigung auf reguläre Karten und Last-Minute-Tickets für 12 Euro. Weitere Infos unter www.mozartfest.de