Vielleicht ist Liebe ja grundsätzlich ein Missverständnis? Vielleicht kommen Beziehungen ja überhaupt nur zustande, weil beide immer nur das beim anderen hören, was sie hören wollen? So jedenfalls legt es das vorgebliche Happy End der Oper "Ariadne auf Naxos" nahe, die soeben am Mainfranken Theater Premiere feierte: Ariadne, von ihrem Helden Theseus sitzengelassen auf einer wüsten Insel, sehnt den Tod herbei. Als Bacchus auftaucht, sie zu retten und zu lieben, sieht sie in ihm nur den willkommenen Todesboten.
Die beiden singen einander leidenschaftlich an – und aneinander vorbei. Bacchus beteuert, er und sie gehörten auf die Seite der Lebenden: "Dann sterben eher die ewigen Sterne, als dass du stürbest aus meinen Armen!" Ariadne ignoriert das mit leidensverliebter Grandezza. Möglicherweise werden die beiden – wie ganz normale Leute – in nächster Zeit eine ernsthafte Unterhaltung darüber führen müssen, was sie eigentlich voneinander erwarten.
"Ariadne auf Naxos", 1916 uraufgeführt, ist die Oper schlechthin, sagt Regisseur Dominique Horwitz. Richard Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal haben ein Stück im Stück ersonnen. Zwei rivalisierende Compagnien sollen am selben Abend für einen neureichen Wiener eine ernste Oper beziehungsweise ein derbes Tanzstück aufführen. Trotz heftiger Animositäten wird es aber erst richtig schwierig, als der Geldgeber ausrichten lässt, er wolle beide Stücke gleichzeitig, sozusagen ineinander verzahnt, aufgeführt haben.
Enrico Calesso dirigiert im Glitzerfrack in genießt sichtlich die Rolle als Zirkusdirektor
Die Oper ist zweiteilig: Auf ein Vorspiel, das Pascal Seibicke (Bühne und Kostüme) auf einem Parkplatz mit zwei vergilbten Wohnwagen ansiedelt, folgt die Aufführung der Oper in der Oper. Seibicke hat dafür die Manege des Zirkus "Tartarus" ersonnen, mit Attraktionen wie Gauklern, Tänzern, bärtigen Damen und siamesischen Zwillingen – Silke Evers und Anneka Ulmer verbringen als Najade und Dryade den Abend tapfer in einem gemeinsamen Kostüm und singen sich im Verein mit Echo Barbara Schöller augenblicklich in die Herzen der Besucher.
Das Orchester hat anfängliche Intonationsprobleme überwunden und findet sich immer besser in den ständigen Wechsel von filigranen, solistisch besetzten Passagen und großen Klangwolken. In diesem zweiten Teil sitzt es auf der Bühne. Enrico Calesso dirigiert im Glitzerfrack und hat sichtlich Spaß an der Rolle des Zirkusdirektors. So übernimmt das Publikum im Saal die Rolle des Publikums der Oper in der Oper. Die Würzburger Version von Max Reinhardts Arenabühne, wenn man so will. Alle gemeinsam finden sich wieder in einer grellbunten, grotesken, glitzernden Welt der Illusionen und der Travestie.
Hinter jeder Deutungsebene wartet schon die nächste
So ergeben sich ganz von selbst unendlich viele Schichten und Perspektiven. "Ariadne auf Naxos" ist so etwas wie eine dramaturgische Matrjoschka: Hinter jeder Deutungsebene wartet schon die nächste. Ständig verschwimmen die Grenzen zwischen Identität und (Geschlechter-)Rolle, zwischen Ernst und Spiel, zwischen Sein und Schein. Vor allem aber zwischen trotzig vorgetragenem Selbstverständnis und wirklicher Neigung.
Bestes Beispiel ist der Moment, in dem die Komponistin (bei Horwitz ist aus der Hosenrolle eine Frauenrolle geworden), ernsthafteste Vertreterin der ernsthaften Operntruppe, und Zerbinetta, frivolste Vertreterin der frivolen Tanztruppe, ihre Liebe zueinander entdecken. Es ist dies der anrührendste, intimste und ehrlichste Moment der ganzen Inszenierung – lange, bevor die eigentlichen, genuin opernhaften, Gefühlsverwirrungen ihren Anfang nehmen.
"Ariadne auf Naxos" ist die Oper der Frauenstimmen. Und die sind in Würzburg grandios besetzt. Marzia Marzos warmer Mezzo leuchtet wunderbar in jedem Register, als sei er nur dazu gemacht, das Credo der Komponistin zu verkünden: "Musik ist heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut wie Cherubim um einen strahlenden Thron! Das ist Musik, und darum ist sie die heilige unter den Künsten!"
Geltungssucht und Einsamkeit, Klugheit und Fahrlässigkeit, Hunger nach schneller Lust und nach tiefer Liebe
Akiho Tsujii ist eine quirlig-übergriffige Zerbinetta, der man in jeder Sekunde die explosive Gleichzeitigkeit vieler Regungen abnimmt: Geltungssucht und Einsamkeit, Klugheit und Fahrlässigkeit, Hunger nach schneller Lust und nach tiefer Liebe. Atemberaubend, wie sie dem armem Lakaien (Taiyu Uchiyama) in offener Manege mittels blitzsauberster Koloraturen an die Wäsche geht.
Ilia Papandreou hat die dramaturgisch undankbarste Rolle: zickige Primadonna im ersten Teil und verpeilte Ariadne im zweiten. Die Regie stellt sie tatsächlich anfangs in Zerbinettas Schatten. Doch Ilia Papandreou singt sich mit großem, klarem Sopran und blendender Präsenz (nicht nur dank des blütenweißen Kleids) ins Licht. Es ist vor allem ihre Stimme, die den ungeheuren melodischen Reichtum der Musik trägt.
Die Männer hingegen sind hochwertige Staffage. Kosma Ranuer, Mathew Habib, Daniel Fiolka, Yong Bae Shin, Igor Tsarkov und Roberto Ortiz tragen als Musik- und Tanzmeister, als Gaukler und Tänzer die Frauen auf Händen – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Daniel Magdal hat als Bacchus und schwerer Tenor zwar ebenfalls eine tragende Rolle, aber wie er da im Smoking eher ungelenk inmitten des schrillen Gewusels steht, macht es schon nachvollziehbar, warum Ariadne sich so schwer tut, ihn als Ausweg in ein neues Leben zu begreifen.
Lang anhaltender Beifall für eine "Ariadne", die ganz im Sinne ihrer Schöpfer ein Plädoyer ist für Individualität und Vielfalt. Die die Frage nach Authentizität und Identität neu stellt und es dem Besucher überlässt, Antworten zu finden. So wie es Ariadne und Bacchus noch bevorsteht.
Die nächsten Vorstellungen: 2., 6., 9., 15., 28. Februar. Auf dem Spielplan bis 15. Mai. Karten: Tel. (0931) 3908-124 oder karten@mainfrankentheater.de