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Würzburg
"Stille Nacht" - der weihnachtlichste aller Weihnachtsschlager
Vor genau 200 Jahren erklang das Lied zum ersten Mal. Bis heute ist es das wohl beliebteste Weihnachtslied überhaupt – auch, wenn es unzählige Male umgedichtet wurde.
Eine Weihnachtskrippe mit Gipsfiguren, entstanden in Würzburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es soll das Christuskind in einer Krippe gewesen sein, das Joseph Mohr einst zur Textzeile 'holder Knabe im lockigen Haar inspirierte'.
Foto: Daniel Peter | Eine Weihnachtskrippe mit Gipsfiguren, entstanden in Würzburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es soll das Christuskind in einer Krippe gewesen sein, das Joseph Mohr einst zur Textzeile "holder Knabe im lockigen Haar ...
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:17 Uhr

Andreas Lehmann hat eine kleine Umfrage unter seinen Studenten gemacht. Kein bisschen repräsentativ, dennoch ziemlich aussagekräftig. Er fragte, welches das beliebteste, welches das unbeliebteste Weihnachtslied sei. Ergebnis: "Stille Nacht" und "Last Christmas". Bedenkt man, dass Andreas Lehmann Professor für Systematische Musikwissenschaft und Musikpsychologie an der Hochschule für Musik in Würzburg ist, seine Studenten also eher Leute mit ein wenig differenzierterem Musikgeschmack, erklärt sich die Bewertung.

Allerdings: "Stille Nacht" ist alles andere als ein Insider-Tipp, sondern das genaue Gegenteil. "Das ist der Weihnachtsschlager schlechthin", sagt Lehmann. Das Lied, das vor genau 200 Jahren zum ersten Mal nach der Christmette in der Kirche St. Nikola in Oberndorf im Salzburger Land erklang, wird heute in über 300 Sprachen und Dialekten auf der ganzen Welt gesungen. Es gibt Fassungen in nahezu jedem Musikstil - von der Hausmusik über allerhand Jazzversionen bis hin zur Lektion der Online-E-Gitarrenschule. Es gibt sogar ein Buch, so berichtet Lehmann, das sich nur mit der Forschung befasst, die bisher zum Thema "Stille Nacht" stattgefunden hat.

Es heißt, dass zwei Milliarden Menschen die Melodie kennen. Den Text aller sechs Strophen vermutlich nicht ganz so viele, zumal das ursprüngliche Gedicht des Hilfspfarrers Joseph Mohr (1792-1848) über 50 mal umgeschrieben wurde – aus konfessionellen oder propagandistischen Gründen, etwa im NS-Staat. Oder aus satirischen. Es gibt sogar eine Version auf Klingonisch. Für Nicht-Trekkies: Klingonen sind ein wehrhaftes und nicht sehr zur Besinnlichkeit neigendes Weltraumvolk in der Science-Fiction-Serie "Star Trek".

Die Melodie soll der Organist Franz Xaver Gruber ( 1787-1863) der Legende nach am Nachmittag des 24. Dezember 1818 mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelt haben – die Orgel der Kirche war kaputt, es musste ein Lied her, das sich gut zur Gitarrenbegleitung singen ließ. Das gelang, Gruber und Mohr sangen nach der Mette zweistimmig "Stille Nacht" und begründeten damit eine Tradition, die bis heute ungebrochen ist. In wenigen Jahrzehnten absolvierte das Lied seinen Siegeszug um die Welt, es wurde dem Kaiser und dem Zaren zu Gehör gebracht und schaffte wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Sprung über den Atlantik. Berühmte Interpreten waren und sind Bing Crosby, Elvis, die Muppets oder Helene Fischer.

"Allein aus der musikalischen Struktur heraus lässt sich der anhaltende Erfolg nicht erklären", sagt Lehmann, "im Grunde ist es ein Mysterium." Auch wenn "Stille Nacht" quasi exemplarische Voraussetzungen erfüllt: Das Lied steht in Dur, die Melodie lässt sich mit ein wenig Grundmusikalität hübsch zweistimmig in Terzen singen. Mit seinem sanft wiegenden Dreier-Takt (wie etwa auch "Josef, lieber Josef mein") hat es etwas unentrinnbar Anheimelndes, im Grunde ist es ja auch ein Schlaflied. Dann gibt es noch eine kleine elegische Steigerung (bei den Worten "Schlafe in himmlicher Ruh"), fertig ist der Dauerhit. 

"Stille Nacht" kam genau zur richtigen Zeit

Historisch gesehen, kam "Stille Nacht" genau zur richtigen Zeit: Die napoleonischen Kriege hatten Not und Elend über Europa gebracht, gerade im Alpenland war die Armut bitter. Zwei Jahre zuvor war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen, die Ascheteilchen in der Atmosphäre hatten das Klima weltweit verändert und in Europa für ein "Jahr ohne Sommer" gesorgt. Die Sehnsucht nach Frieden und ein wenig Geborgenheit war weit verbreitet.

So wurde "Stille Nacht" auch zur Weihnachtshymne des Biedermeier, der Parallelbewegung der Romantik: Dem Sehnen in die Ferne, dem Kult des Geheimnisvollen, Ungewissen, Unerklärlichen setzte das Biedermeier das häusliche Idyll entgehen. Vor der Unsicherheit draußen zog sich die Familie zurück ins Private. Im Gottesdienst wurden uralte, ernste und eher unnahbare Lieder gesungen wie "Es ist ein Ros entsprungen" oder "Vom Himmel hoch, da komm ich her", daheim an der Familienkrippe das heimelige "Stille Nacht".

Das Stille Nacht-Museum in Oberndorf bei Salzburg. Direkt nebenan stand die St. Nikola-Kirche, in der am 24. Dezember 1818 erstmals 'Stille Nacht' erklang. Die Kirche fiel Anfang des 20. Jahrhunderts einem Hochwasser zum Opfer, heute steht dort die 1937 geweihte Stille-Nacht-Kapelle.
Foto: Barbara Gindl, dpa | Das Stille Nacht-Museum in Oberndorf bei Salzburg. Direkt nebenan stand die St. Nikola-Kirche, in der am 24. Dezember 1818 erstmals "Stille Nacht" erklang. Die Kirche fiel Anfang des 20.

Die beiden Pole Romantik und Biedermeier bilden sich auch in der Musik des 19. Jahrhunderts ab: Während Sinfonik und Oper der Romantik sich zu immer gewaltigeren Gebäude auftürmen (siehe Wagner, Mahler, Bruckner), entstehen auf der anderen Seite Stücke "im Volkston", Werke, die der Tradition des Volkslieds verpflichtet sind und die wiederum zumeist im privaten Kreise gespielt werden.

Andreas Lehmann
Foto: Dita Vollmond | Andreas Lehmann

Die Krippe ist übrigens ein weiteres Symbol – oder Symptom – für den Rückzug ins Private. Ende des 18. Jahrhunderts hatte es in Österreich mehrere kaiserliche und fürstbischöfliche Verbote gegen Weihnachtskrippen in öffentlichen Gebäuden, vor allem eben den Kirchen gegeben – die figürlichen Darstellungen der Weihnachtsgeschichte wichen sozusagen in die privaten Haushalte aus. Und gehören seither zur unverzichtbaren Ausstattung besinnlicher Weihnacht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam der Christbaum dazu - ein Symbol heidnischen Ursprungs, als Vertreter des nicht nur in der Romantik verehrten deutschen Walds umso willkommeneres Requisit.

"Liebling, sie spielen unser Lied" gilt auch für "Stille Nacht"

Aus psychologischer Sicht wiederum ist "Stille Nacht" ein Prototyp für die sogenannte episodische Erinnerung, was wohl erklärt, warum das Lied seinen Weg (mehr oder weniger) unbeschadet in  die Moderne gefunden hat. Sobald wir ein Stück Musik mit einem besonderen Ereignis in unserem Leben verbinden – etwa mit dem berühmten ersten Kuss –, bekommt es besondere und oft auch bleibende Bedeutung für uns. Andreas Lehmann hat dafür eine griffige Formel: "Liebling, sie spielen unser Lied".

Nun ist Weihnachten in Deutschland so etwas wie eine kollektive episodische Erinnerung – und eine immer wiederkehrende noch dazu. "Die Deutschen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Weihnachten", sagt der Musikwissenschaftler, "zu keinem anderen Fest gibt es so viele Lieder." Millionen Menschen verbinden mit Weihnachten das jährliche Zusammenkommen der Familie, das Innehalten im Jahreslauf. Lebkuchen und Plätzchen liefern den Duft dazu, "Stille Nacht" den Soundtrack.

"Last Christmas" ist alles andere als ein Weihnachtlied

Und was ist mit "Last Christmas"? "Last Christmas" ist auf seine Art ebenfalls exemplarisch. "Das ist alles andere als ein Weihnachtslied", sagt Lehmann. "Es geht um enttäuschte Liebe, und damit wird ja das Versprechen von Weihnachten konterkariert." Und doch läuft der Song von George Michaels Band Wham! aus dem Jahr 1986 spätestens ab November rauf und runter. Er deutet zwar mit synthetischen Glöckchen Festtagsstimmung an und zeigt im Video schöne Menschen mit Fönfrisuren bei Schneeballschlacht und Party, hat aber ansonsten nichts mit dem Fest von Christi Geburt zu tun. Wie andere Lieder auch, wenn auch aus anderen Gründen. Lehmann hat eine Weile an der Martin-Luther-Universität-Halle-Wittenberg gelehrt und dort das Lied "Oh, es riecht gut" kennengelernt. "Das kannte in der DDR jeder, das war ein Weihnachtslied ohne Weihnachten."

In der vereinigten Bundesrepublik spielen ideologische Aspekte freilich keine Rolle mehr. Weihnachtlicher sind viele Weihnachtslieder deshalb trotzdem nicht. "Das sind reine Stimmungslieder. Da geht es nur noch um heile Welt, Deko und Kitsch", sagt der Musikpsychologe Lehmann. "Da hat man die ursprünglichen Inhalte rausgemendelt." Zur Anwendung kommen diese Stücke überall da, wo Weihnachten zum "Formalismus oder gar Event-Tourismus" (Lehmann) geworden ist. Also in Kaufhäusern und auf den Weihnachtsmärkten. Weihnachtssongs werden dann zur akustischen Revierbegrenzung. Zu Lockmittel und Kulisse. Es soll sogar Städte geben, deren Marketing-Abteilungen dafür sorgen, dass die saisonal gefärbten Klänge eine gewisse Lautstärke nicht unterschreiten. Auch wenn "Stille Nacht" läuft.

 
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