Der kleine Prinz und der Fuchs haben den gemütlichen Kometen verlassen, den sie zusammen mit der Rose und dem Schaf bewohnen, und sind auf die Erde gekommen. Die ist nach einer gigantischen Explosion völlig verwüstet. Hier ist niemand mehr am Leben, alles ist grau und schwarz. Was ist passiert?
So beginnt "Helle Schatten", das neue Stück des Würzburger Theaters Augenblick. Das Theater, seit gut zwei Jahren ansässig im Würzburger Kulturspeicher, gibt es seit 1998 als eigenständigen Fachbereich der Mainfränkischen Werkstätten. In Bayern ist es das erste und einzige, in dem Menschen mit Behinderung hauptberuflich als Schauspieler arbeiten – wenn auch ein wenig anders als ihre Kolleginnen und Kollegen an einem Stadt- oder Staatstheater.
So spielt das Theater Augenblick nur eigene Stücke, die das Ensemble gemeinsam entwickelt. "Am Anfang stehen Improvisationen", sagt Stefan Merk, Theaterleiter und Regisseur. Die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen Erlebnisse oder Themen nach, die sie bewegen: ein Volksfestbesuch, eine Fernsehsendung oder eben auch die Sorge um den Planeten.
Die Rollen sind immer nah an den Darstellerinnen und Darstellern dran
"Da entstehen verrückte Sachen, die dann an ganz anderer Stelle ins Stück einfließen", sagt Merk. Es kann deshalb schon mal ein Jahr dauern, bis eine neue Produktion bühnenreif ist. "Wenn wir fertige Stücke nehmen würden und die Schauspieler Text lernen müssten, würden wir ja nur die Behinderung zeigen", sagt Stefan Merk. "So aber sind die Rollen sehr nah an den Darstellern dran. Wir erreichen dadurch eine Echtheit, die es in anderen Theatern oft nicht gibt."
Ein Beispiel: Ensemblemitglied Fabian Dinsing hat in der Altenpflege gearbeitet, bevor er Schauspieler wurde. Und verzweifelte dort an rigiden Zeitvorgaben, die verhinderten, dass er sich wirklich um die Menschen kümmern konnte. "Er hat sich zu sehr eingefühlt", sagt Stefan Merk.
Im Stück verdichten sich Fabians Erfahrungen zu einer beklemmenden Szene, in der seine Figur hilflos zwischen den ihm Anvertrauten hin und her irrt. Eine Stimme aus dem Off listet auf, wie lange die Pflegenden für bestimmte Leistungen brauchen dürfen. "Kämmen: eine Minute; Ganzkörperwäsche: 20 Minuten." Fazit: "Er hatte keine Chance."
Szenen, die entweder das Leben feiern oder den Sog in Richtung Vernichtung zeigen
Die Szene ist eine von mehreren, die die Erde vor der Zerstörung zeigen. Oder besser: die zeigen, wie die Menschheit ihre eigene Vernichtung in die Wege geleitet hat. Durch Prozessoptimierung, Machtgier und Lieblosigkeit. "Irgendwann fühlte sich keiner mehr verantwortlich, dann hat die KI übernommen", erklärt Stefan Merk den Ansatz.
Der Theaterleiter hat in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen Susanne Dill und Hilda Gardner die Rahmenhandlung entworfen und die Improvisationen zu Szenen gefügt, die aus erstaunlich vielen Perspektiven mal das Leben feiern, mal den Sog in Richtung Vernichtung zeigen.
Da gibt es die Liebesgeschichte von Sebastian, der allen Mut zusammennimmt und seine Angebetete zum Eisessen einlädt. Die anschließende Fahrt auf der Sommerrodelbahn, mit großem Spaß simuliert auf in Reihe gestellten Hockern, bringt richtig Action in das Stück. Da sind die beiden Generäle, die einander kindisch die Bauklötze streitig machen. Und da ist Johannes, der seine ganze Wut über "die Deppen" hinausschreit, die ihm sein Recht auf Leben streitig machen wollen.
Dieses Leben, in das er sich mit so viel Beharrlichkeit erst hineinkämpfen musste. Denn Alexander Ellebruch, der den Johannes spielt, kam selbst mit einem schweren Geburtsfehler auf die Welt: Es bestand keine Verbindung zwischen Herz und Lunge.
Erst viele Operationen später konnte seine Mutter ihn das erste Mal in die Arme nehmen. Alexander/Johannes reißt zum besseren Verständnis das Sweatshirt hoch und zeigt seine lange OP-Narbe.
Der kleine Prinz, mit ruhiger Präsenz gespielt von Jan Simanzik, erkundet staunend und mitfühlend die Welt vor ihrer Zerstörung. Die Regie hat ihm die Fähigkeit mitgegeben, Vergangenes kurzzeitig wieder zum Leben zu erwecken.
So darf Laura noch einmal juchzend Karussell fahren oder Morgan mit blonder Perücke die eigene Schönheit bewundern. Es gibt ein sarkastisch-komisches Defilee der Influencer, aber auch eine Szene voller Zärtlichkeit, in der die Darstellerinnen und Darsteller einander wechselweise umarmen.
Beim Umarmen müssen Größenunterschiede und Blickwinkel bedacht werden
Was übrigens geübt sein will: Beim Umarmen müssen Größenunterschiede und Blickwinkel bedacht werden. Stefan Merk führt es in der Probe mit dem Rücken zum Publikum vor. "Wenn ich es so mache, was seht ihr?", fragt er. Und das Ensemble antwortet mit einer Stimme: "Deinen Hintern!"
An anderer Stelle soll Laura Juretzka möglichst traurig den Satz "Das hab ich geschenkt bekommen" sagen. Das fällt ihr schwer: "Trauriger geht nicht. Ich bin heute gar nicht traurig", sagt sie. Stefan Merk rät zu einer klassischen Schauspieltechnik: "Dann denk' dabei an etwas Trauriges!"
Weil die Ensemblemitglieder fühlen, was sie spielen, erreichen sie auch die Herzen ihres Publikums. Das heißt aber auch, dass Stefan Merk nicht willkürlich Rollen einfordern kann: "Ich muss immer erst sehen, was sie spielen können. Und wenn etwas nicht geht, muss ich es entsprechend ändern. Jeder hat hier seinen individuellen Platz, seine Stärken und seine Schwächen. In der Kunst können die Menschen mit Behinderung ebenbürtig sein."
Das Thema Inklusion ist beim inklusiven Theater Augenblick übrigens ganz anders präsent, als man vielleicht erwarten würde. Denn es sind die nicht behinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die gelegentlich die Planung erschweren, erzählt Stefan Merk: "Die haben alle noch andere Verpflichtungen. Die Menschen mit Behinderung aber sind immer da. Es ist ja ihr Job."
"Helle Schatten" feiert am 15. November, 19.30 Uhr, Premiere und steht dann bis 13. Dezember auf dem Spielplan. Reservierungen unter www.theater-augenblick.de/spielplan-karten oder per E-Mail an karten@theater-augenblick.de oder Tel. (0931) 99 14 81 00.