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WÜRZBURG
Tag der Epilepsie: „Das Unberechenbare verunsichert“
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:54 Uhr

Von Krämpfen geschüttelt am Boden liegen, zittern, die Kontrolle verlieren – das ist das typische Bild vieler Menschen von Epilepsie. Das Spektrum der Krankheit ist aber breiter. Und es macht den Alltag für Betroffene nicht einfach. Bundesweit sind laut der Deutschen Epilepsievereinigung etwa eine halbe Million Menschen erkrankt, Epilepsie gilt somit nach Migräne und Schlaganfall als dritthäufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft „sehr wenig Wissen über die Krankheit“, sagt Sozialpädagogin Simone Fuchs von der Epilepsieberatung Unterfranken am Juliusspital in Würzburg. Noch immer werde die Krankheit teilweise stigmatisiert. Um Vorurteile abzubauen, findet jedes Jahr am 5. Oktober der Tag der Epilepsie statt. Anlass für ein Gespräch über Angst vor dem Alltag, Stress als Auslöser und das schwierige Aushalten.

Bedeutet die Diagnose Epilepsie ein Leben in Angst für die Betroffenen?

Die Diagnose ist oft ein Schock und die erste Auseinandersetzung mit der Krankheit kostet sehr viel Energie, manchmal führt sie zu Ängsten oder einer richtigen Krise. Das liegt auch daran, dass man zu Beginn noch nicht sagen kann, wie sich die Epilepsie entwickeln wird. Man steht morgens auf und weiß nicht, habe ich heute einen Anfall oder nicht? Kommt der nächste diese Woche oder in einem Jahr oder nie mehr? Das Unberechenbare verunsichert.

Wie wirkt sich das auf den Alltag aus?

Natürlich sind es einerseits die Anfälle selbst, die das Leben beeinträchtigen. Aber die Auswirkungen der Diagnose reichen meist noch viel weiter. Für Erwachsene ist das Schwierigste oft das Fahrverbot. Das gilt, sobald Anfälle häufiger auftreten. Gerade erst war ein Betroffener bei mir, der ohne Auto nicht zum Arbeitsplatz kommt. Er muss nun von Angehörigen gefahren werden. Für Lkw-Fahrer oder Dachdecker bedeutet die Diagnose, dass sie zunächst nicht mehr arbeiten können. Das ist eine große Belastung. Selbst alleine zu schwimmen oder baden zu gehen kann schwierig sein, wenn man nicht anfallsfrei ist. Es gibt Menschen, die sind in ihrer Badewanne ertrunken.

Können Medikamente Sicherheit bieten beziehungsweise Anfälle verhindern?

Man kann sagen, dass Epilepsien an sich gut behandelbar sind. Zwei Drittel der Patienten werden mit Medikamenten anfallsfrei und merken dann kaum noch etwas von der Erkrankung. Aber eben nicht alle. Und gerade zu Beginn, kurz nach der Diagnose, weiß man nicht, wie die Medikamente anschlagen. Deshalb ist sehr viel Angst dabei – bei den Betroffenen, aber auch bei den Angehörigen.

Warum bei den Angehörigen?

Typisch für die Epilepsie ist, dass man sie, je nach Anfallsform, nicht unbedingt selbst miterlebt. Oft ist der Patient bewusstlos, hat wie eine Art Blackout. Stellen Sie sich vor, Sie werden nachts wach, fühlen sich benommen, haben starke Kopf- und Gliederschmerzen und der Notarzt steht vor Ihnen und Sie kommen ins Krankenhaus. Und Sie denken: Das kann nicht sein, ich habe doch nur geschlafen. Aber Sie hatten einen schweren Krampfanfall. Die Angehörigen bekommen das alles mit. Für sie sind diese Anfälle oft sehr dramatisch und können fast lebensbedrohlich wirken.

Epilepsie wird oft als Gewitter im Gehirn umschrieben. Läuft jeder Anfall gleich ab?

Es gibt sehr viele verschiedene Formen. Etwa ganz kurze Bewusstseinspausen, so ähnlich wie beim Sekundenschlaf, oder Anfälle, bei denen zum Beispiel nur die Hand krampft. Daneben kommen Anfälle vor, bei denen Patienten ohne Bewusstsein sind und automatisch Dinge tun, wie Schmatzen oder an der Kleidung nesteln. Am bekanntesten ist aber der Grand Mal: Dabei werden Patienten steif, verlieren das Gleichgewicht, zittern am ganzen Körper und krampfen. Das kann wirklich dramatisch aussehen. Trotzdem sind diese Anfälle nicht lebensbedrohlich und die meisten enden von alleine. Aber das weiß der Angehörige ja nicht, vor allem nicht, wenn er das das erste Mal sieht und wenn ihm der Betroffene nahe steht. Da kann mitunter der Eindruck entstehen, mein Partner oder mein Kind stirbt mir jetzt unter den Händen weg und ich bin hilflos. Das kann manchmal wie eine traumatische Erfahrung sein. Es dauert meist eine Weile, bis man lernt, damit zu leben und zu sagen, es ist ja ,nur‘ ein Anfall.

Ist man den wirklich hilflos – oder kann man bei Anfällen als Außenstehender etwas tun?

Man kann Erste Hilfe leisten und vor allem Ruhe bewahren. Das ist natürlich leicht gesagt. Wichtig ist es, sich daran zu erinnern: Es ist nicht lebensbedrohlich. Dann kann man dafür sorgen, dass etwas Weiches unter dem Kopf liegt, damit der im Krampf nicht aufschlägt. Gut ist es auch, die Betroffenen in die stabile Seitenlage zu bringen, so dass der Speichel abfließt und die Atemwege frei sind. Während des Anfalls sollte man bewusst auf die Uhr schauen: Wenn er nach drei bis fünf Minuten nicht aufhört, muss man einen Krankenwagen rufen. Man kann also einiges tun – aber man kann nichts tun, um den Anfall zu stoppen oder zu verkürzen. Und das Auszuhalten ist manchmal sehr schwer für Angehörige.

Gibt es noch andere Behandlungsformen neben Medikamenten?

Vereinzelt besteht die Möglichkeit der Epilepsiechirurgie, wenn der Ursprung der Anfälle im Gehirn an einem Ort liegt und entfernt werden kann. Aber das kommt nicht für die breite Masse in Frage. Was aber jeder tun kann: die Lebensführung anpassen. Denn meist kennen die Betroffenen anfallsauslösende Faktoren. Das kann extremer Alkoholgenuss sein oder Schlafmangel oder Stress. Es gibt sehr viele individuelle Faktoren und es ist natürlich gut, sich danach zu richten. Das ist ein aktives Auseinandersetzen mit der Erkrankung.

Sie sind seit 2001 bei der Epilepsieberatung Unterfranken, sprechen regelmäßig mit Betroffenen und Angehörigen. Gehen Patienten offen mit der Erkrankung um oder wird sie verschwiegen?

Es gibt beides. Bei Eltern ist es so, dass sie dann, wenn das Kind in die Schule kommt, meist darüber reden. Erwachsene zweifeln oft, ob und wem sie es sagen wollen. Dabei kommt es darauf an, wie oft die Anfälle auftreten und je nachdem ist es nötig, dem Arbeitgeber Bescheid zu sagen. Generell ist das eine Vertrauenssache. Und eine Herausforderung für Betroffene, denn wie erklärt man Epilepsie dem Gegenüber, ohne Angst zu machen?

Die Deutsche Epilepsievereinigung bemüht sich seit Jahren um Aufklärung – trotzdem halten einige Epilepsie noch immer für eine geistige Behinderung. Ist die Krankheit stigmatisiert?

Vereinzelt schon. In Umfragen beispielsweise sagen noch immer 20 Prozent, sie würden niemanden heiraten, der Epilepsie hat. In der Gesellschaft gibt es einfach noch sehr wenig Wissen über die Krankheit. Und das, obwohl knapp ein Prozent aller Menschen Epilepsie hat – das ist so häufig wie Diabetes oder Gelenkrheuma. Nur: Über Diabetes weiß jeder irgendwas, über Epilepsie nicht. Und kaum jemand weiß, dass es quasi eine Volkskrankheit ist.

Und wie helfen Sie, wenn ein Mensch von der Diagnose Epilepsie umgeworfen wird?

Wichtig ist es, erst einmal überhaupt einen Ansprechpartner zu haben, zu wissen, da kann ich hingehen und meine Sorgen abladen und da bekomme ich fundierte Informationen. Denn im Internet liest man oft sehr widersprüchliche Sachen. Zudem geht es um die Frage: Was kann ich machen? Wir sagen immer, möglichst wenige Einschränkungen und so normal weiterleben, wie möglich. Und dabei wollen wir helfen. Deshalb gehen wir beispielsweise in den Kindergarten und schulen die Betreuer oder wir besuchen den Betrieb und sprechen mit dem Arbeitgeber. Oder wir suchen mit Patienten Wege, wie sie mit kritischen Situationen, mit ihrer Angst, leben können. Das sind immer sehr individuelle Geschichten.

Simone Fuchs (geboren 1972) ist Diplom-Sozialpädagogin bei der Epilepsieberatung Unterfranken. Träger der Einrichtung ist die Stiftung Juliusspital in Würzburg, dort ist auch der Sitz der Beratung. Außenstellen mit Sprechtagen gibt es in Schweinfurt, Bad Neustadt, Aschaffenburg, Lohr, Haßfurt und Kitzingen. Kontakt: Tel. (0931) 3 93 15 80, Infos: www.epilepsieberatung.de

Telefonaktion

Zum Thema Epilepsie veranstaltet diese Redaktion am kommenden Mittwoch, 10. Oktober, eine Telefonaktion. Unsere Experten sind: Dr. Christoph Uibel, Oberarzt an der Neurologischen Klinik, Klinikum Würzburg Mitte, Standort Juliusspital Dr. Martin Häußler, Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik Dr. Erik Weinmann, Neurologe in Würzburg Simone Fuchs, Diplom-Sozialpädagogin bei der Epilepsieberatung Unterfranken am Juliusspital Haben Sie Fragen rund um das Thema? Dann rufen Sie an: Die Experten sind am Mittwoch, 10. Oktober, von 16 bis 18 Uhr telefonisch unter dieser Durchwahl zu erreichen: Tel. (0931) 6 00 19 92 sp
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