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ASCHAFFENBURG/WÜRZBURG
Tag der Epilepsie: Wie ein Gewitter im Gehirn
Julia von Holst und Martin Arold leiden seit Jahren an epileptischen Anfällen. Aber sie lassen sich nicht unterkriegen. Ihre Botschaft an Betroffene lautet: Niemals aufgeben, und eine Prise Humor kann auch nicht schaden.
Achim Muth
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:00 Uhr

Wenn Julia von Holst an die Zukunft denkt, denkt sie meist nur an den nächsten Tag. Die junge Frau aus Aschaffenburg leidet an Epilepsie, und seit die Krankheit vor etwa fünf Jahren bei ihr diagnostiziert wurde, ist sie ihr ständiger Begleiter. Immer wieder hat die Erzieherin Anfälle, sie bezeichnet sie als kurze Aussetzer des Gehirns. „Ich bin dann nicht mehr ansprechbar, nehme nichts wahr“, sagt sie. „Letztlich bin ich über jeden Tag froh, den ich anfallsfrei verbringe.“

Julia von Holst sitzt in den Räumen der Epilepsieberatung Unterfranken im Juliusspital Würzburg und erzählt davon, als die ersten Symptome in der Pubertät aufgetreten sind. Mittlerweile ist sie 26 Jahre alt und die Krankheit gehört zu ihrem Leben: „Ich bin dabei zu lernen, richtig mit ihr umzugehen.“ Wichtig sei es für Betroffene, sagt sie, Hilfe anzunehmen. „Man darf sich davor nicht scheuen, denn alleine ist es viel schwieriger.“ Viele Medikamente hat Julia von Holst mittlerweile ausprobiert, eine signifikante Besserung hat sich bislang nicht eingestellt. Es vergehe kaum eine Woche, in der sie keinen Anfall habe. Längst hat sie ihr Leben an der Epilepsie ausgerichtet. Autofahren ist tabu, vor kurzem ist sie deshalb in die Nähe ihrer Arbeitsstelle, einer Erziehungseinrichtung gezogen. Dort betreut sie unter anderem Schulkinder bei den Hausaufgaben. Sie ist glücklich, dass ihr der Arbeitgeber diese Chance gibt, die Einrichtung ist auch groß genug, damit stets eine Kollegin dabei sein kann. Alleine dürfte sie ihren Job nicht ausüben, denn ein Anfall ist jederzeit möglich.

Julia von Holst ist mit ihrer Krankheit nicht allein. Laut Schätzungen der Deutschen Epilepsievereinigung (DE) bekommen rund fünf Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einen epileptischen Anfall. Doch nur ein Teil entwickelt eine Epilepsie, jene Form, in der sich die Anfälle wiederholen. In Deutschland sind etwa 500 000 Menschen daran erkrankt. Damit sind Epilepsien nach der Migräne und dem Schlaganfall die dritthäufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems. Anfälle werden durch Funktionsstörungen des Gehirns hervorgerufen und können sehr unterschiedlich verlaufen, das Zusammenspiel der Milliarden von Nervenzellen im Gehirn ist dann gestört, es entsteht eine Art Gewitter. Nach DE-Angaben können Anfälle von wenigen Sekunden bis zu einigen Minuten dauern, es kann sich um kleine Missempfindungen handeln, um Krämpfe und Muskelzuckungen bis hin zu einem schweren Verlauf mit Bewusstseinsverlust, der oft einhergeht mit einem Sturz oder Schreien.

Um auf die Krankheit aufmerksam zu machen, veranstaltet die Deutsche Epilepsievereinigung seit 1996 jährlich am 5. Oktober einen „Tag der Epilepsie“ – in diesem Jahr stand er unter dem Motto „Epilepsie kann jeden treffen, in jedem Alter.“ Tatsächlich können die Anfälle alle Menschen gleichermaßen treffen – vom Baby bis zum Greis.

Neben Julia von Holst sitzt Henrike Staab-Kupke. Die Sozialpädagogin arbeitet seit 2001 bei der Epilepsieberatung Unterfranken, und ihr liegt es auch am Herzen, die Krankheit aus der Anonymität zu holen. Verheimlichen sei keine Alternative. Gerade Jugendliche, die vor einer Berufswahl stehen, hätten oft Probleme, richtig mit der Erkrankung umzugehen. „Wichtig ist es, die Situation und die Wünsche genau zu analysieren“, sagt Staab-Kupke und nennt das Beispiel des Schreinerberufs. Ist die Arbeit eher kreativ und planerisch, wäre sie für einen Betroffenen machbar, müsste er jedoch an der offenen Kreissäge hantieren, wäre der Job unmöglich.

Die meisten Epilepsieformen sind nach DE–Angaben mit Medikamenten gut behandelbar und bei positivem Behandlungsverlauf sogar ausheilbar. Daneben gibt es noch Alternativen wie eine epilepsiechirurgische Operation des Gehirns, durch die oftmals lebenslange Anfallsfreiheit erreicht werden könne.

Für Julia von Holst sei eine Operation, so hätten es ihr die Ärzte gesagt, derzeit keine Alternative. Sie hofft, dass eines der Medikamente vielleicht doch irgendwann anschlage. „Irgendwie hat man die Krankheit ständig im Kopf“, sagt die 26-Jährige und beschreibt ihre Situation „als nicht so einfach“. Der psychische Stress sei enorm, „man muss lernen, dem zu entgehen“. Wichtig ist für sie aber auch, „sich nicht unterkriegen zu lassen und ab und an alles ein bisschen mit Humor zu sehen“. Die junge Frau ist froh, dass sie in ihrer Familie und Freunden einen halt hat.

Das soziale Umfeld sei extrem wichtig, sagt Expertin Staab-Kupke, „denn die Betroffenen haben ihre Krankheit nicht alleine“. Angehörige müssten sich mit dem Thema auseinandersetzen, über die Hälfte ihrer Beratungen führe sie deshalb nicht mit Betroffenen.

Wer eine Epilepsie hat, muss mit Einschränkungen seines Lebens rechnen. Autofahren ist dabei ein wichtiges Thema. Bei wem die Krankheit diagnostiziert wurde, der darf kein Auto bewegen. Erst wenn der Patient ein Jahr ohne Anfall nachweisen kann, darf er wieder ans Steuer. „Autofahren ist tatsächlich oft sehr problematisch. Viele verbinden damit ein Gefühl von Freiheit und von Selbstbestimmung und tun sich schwer damit, auf ihr Auto zu verzichten“, sagt die Sozialpädagogin.

Martin Arold dürfte Autofahren. Der 38-Jährige aus Würzburg ist seit vier Jahren anfallsfrei. Aber er tut es nicht. Seit drei Jahren schon lässt er seinen Wagen stehen, aus, wie er sagt, „gesundem Menschenverstand“. Ihm ist das Risiko zu groß. Wenn etwas passieren sollte und andere Menschen zu Schaden kämen, er könnte sich das nicht verzeihen. „Anfangs war es nicht einfach. Aber jetzt genieße ich es.“ Wenn er reist, dann mit der Bahn und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln: „Da kommt man runter vom Alltagsstress.“ Arold lebt seit 22 Jahren mit epileptischen Anfällen. Er erinnert sich gut an den ersten: Seine Eltern kamen aus der Landwirtschaft, er musste früh mit anpacken. Auf dem Acker helfen, Traktor fahren, „irgendwann war es zuviel“. Der Jugendliche bekam einen Tinnitus, später folgte ein Anfall. Er verlor das Bewusstsein, verkrampfte – so fanden ihn die Eltern. Bei ihm schlugen die Medikamente an. Arold wurde eingestellt, im Schnitt hatte er zwei Anfälle im Jahr, meist nachts. „Wenn ich konzentriert bin, kann eigentlich nicht viel passieren.“

Der Technische Zeichner, so scheint es im Gespräch, hat sich mit der Krankheit arrangiert, er lässt es nicht zu, dass sie ihn dominiert. Ein Rat, den er auch anderen Betroffenen geben möchte: „Auch wenn's einem mal schlechter geht, niemals aufgeben, durchhalten, das ist wichtig.“ Ihm helfe auch „eine Prise Humor, man sollte nicht alles so ernst sehen“. Und er regt zur Selbsthilfe an: „Es gibt bessere und es gibt schlechtere Tage.“ Arold glaubt, dass der Betroffene dazu beitragen kann, dass die besseren Tage mehr werden. „Pusht euch, motiviert euch, setzt euch Ziele, aber geht auch mal runter vom Gas.“ Wichtig sei bei Epilepsie vor allem eines: „Geduld.“

Epilepsieberatung

In Unterfranken besteht die Epilepsieberatung seit 13 Jahren. Träger ist die Stiftung Juliusspital in Würzburg, dort ist auch der Sitz der Beratung. Außenstellen mit Sprechtagen gibt es in Schweinfurt, Bad Neustadt und Aschaffenburg. Im Jahr 2013 gab es 922 Telefonkontakte, 467 E-Mail-Anfragen sowie 306 Einzel- und Familienberatungen. Zu den 52 Vorträgen kamen über 1300 Teilnehmer, die acht Seminarangebote besuchten 104 Personen.

Kontakt: Epilepsieberatung Unterfranken, Henrike Staab-Kupke, Juliuspromenade 19, 97070 Würzburg, Tel. (0931) 393 1580, E-Mail: epilepsieberatung@juliusspital.de

Simone Fuchs
| Simone Fuchs
Dr. Hans Molitor
| Dr. Hans Molitor
Dr. Stephan Unkelbach
| Dr. Stephan Unkelbach
Wenn die Nervenzellen des Gehirns gestört sind: Epilepsie ist hierzulande die dritthäufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems.
Foto: dpa | Wenn die Nervenzellen des Gehirns gestört sind: Epilepsie ist hierzulande die dritthäufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems.
 
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