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MÜNCHEN
Münchner Kunstschatz: Rätselhafter Fund
Die 1400 Kunstwerke aus der Wohnung von Cornelius Gurlitt werfen brisante Fragen auf: Welche Stücke wurden von den Nazis geraubt? Wem gehören sie? Und wie gehen die Behörden mit dem Thema um?
Von unserem Mitarbeiter Holger Sabinsky-Wolf
 |  aktualisiert: 26.04.2023 20:49 Uhr

Einen Gerichtssaal weiter sitzt der frühere Waffenlobbyist Karlheinz Schreiber. Nach mehr als einem Jahr Prozess sind für Dienstag die Plädoyers seiner Verteidiger vorgesehen. Vielleicht hat der Kaufmann aus Kaufering für einen Moment gedacht, der Medienrummel im Augsburger Strafjustizzentrum gelte ihm. Doch im Saal 179 geht es um etwas anderes. Die Augsburger Staatsanwaltschaft hält eine Pressekonferenz ab zur Entdeckung des größten Schatzes verschollener Kunstwerke seit der Nazizeit.

Während Schreiber sich immer wieder öffentlich gemeldet hat, ist der 79-jährige Cornelius Gurlitt ein Phantom. Der Sohn des umstrittenen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, der für das NS-Regime einer von vier offiziellen Verwertern sogenannter „entarteter Kunst“ war, lebt offensichtlich seit Jahrzehnten sehr zurückgezogen. Bis heute.

In seiner Wohnung in einem Appartement-Haus in München-Schwabing wurde der sagenhafte Kunstschatz am 28. Februar 2012 entdeckt. Wahrscheinlich stammen die 1400 Werke aus dem Nachlass seines Vaters. Doch gemeldet ist Gurlitt in München nicht. Er hat in Deutschland auch keine Steuernummer, bezieht keine Rentenversicherung und ist nicht hierzulande krankenversichert.

Wie am Montag bekannt wird, hat Gurlitt seinen Erstwohnsitz wohl in Österreich. In München ist er seit einem Jahr nicht mehr gesehen worden. Wo ist Cornelius Gurlitt jetzt? Selbst die Ermittler haben keinen Kontakt zu ihm. Das sagen Augsburgs Leitender Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz und der Leiter des Zollfahndungsamts München, Siegfried Klöble. „Und es interessiert uns derzeit auch nicht, wo er sich aufhält“, ergänzt Nemetz zur Überraschung der Journalisten. Der Beschuldigte sei vernommen worden, das genüge momentan. Einen Grund für einen Haftbefehl habe es nicht gegeben, weil der dringende Tatverdacht fehle.

Ebenfalls erstaunlich ist die Stellungnahme der Salzburger Staatsanwaltschaft vom Dienstag: Das Haus in Salzburg sei bisher nicht durchsucht worden. „Es gibt augenblicklich noch kein Verfahren“, sagt Sprecher Marcus Neher. Im Dezember 2011 habe es eine Anfrage der Staatsanwaltschaft Augsburg wegen eines möglichen Finanzvergehens gegeben. „Dabei ist es um Kunsthandel gegangen, nicht um illegale Kunstwerke“, so Neher. Bleibt die Spekulation, ob Cornelius Gurlitt in seinem Salzburger Haus weitere Kunstschätze gelagert hat. Das aber würde die Fantasie beinahe überstrapazieren zu einem Zeitpunkt, da eben erst ein Jahrhundertfund öffentlich durch Recherchen des Magazins „Focus“ bekannt wurde.

Chefankläger Nemetz, Zollfahnder Siegfried Klöble und Kunsthistorikerin Meike Hoffmann von der Forschungsstelle für entartete Kunst an der FU Berlin bestätigen im Wesentlichen die bisherigen Berichte. Es geht also um eine Entdeckung von schier unschätzbarem Wert. Sogar etliche bislang unbekannte Werke großer Meister wie Otto Dix, Marc Chagall oder Henri Matisse sind darunter. Oder ein Kupferstich von Albrecht Dürer und zwei Grafiken von Pablo Picasso. Viele Kunstwerke galten als verschollen oder vernichtet. Zweifel an der Echtheit der Kunstwerke gibt es bisher nicht, sagt Expertin Meike Hoffmann. Der Fund sei von „unheimlich großem wissenschaftlichem Wert“. Das ist die eine Seite. Doch die heimliche Sammlung von Cornelius Gurlitt erregt die Gemüter weit über Deutschland hinaus. Vor allem geht es um die Frage, welche Stücke von den Nazis geraubt wurden und wem sie nun gehören. Und wie die deutschen Behörden mit dem sensiblen Thema der Rückgabe von Raubkunst umgehen. Viele Fragen in der Pressekonferenz zielen darauf ab, warum der Fund erst jetzt bekannt gegeben wird. Nemetz antwortet in der ihm eigenen knorrigen Art: „Wenn es nach uns gegangen wäre, wäre der Fund auch jetzt noch nicht öffentlich geworden.“ Er schiebt noch rasch eine juristische Erklärung für die Geheimhaltung nach: Die Ermittlungen und die Kunstwerke würden gefährdet. Seit Bekanntwerden der „wahnsinnigen Dimension“ hätten bereits die Sicherheitsvorkehrungen für die Bilder erhöht werden müssen. Wo der Kunstschatz lagert, bleibt daher auch ein Geheimnis.

Vertreter der Erben jüdischer Kunstsammler kritisieren die Behörden scharf: Schon die Geheimhaltung des Fundes verstoße gegen die Grundsätze der Washingtoner Konferenz, bei der sich 44 Staaten über den Umgang mit NS-Beutekunst verständigt hätten, sagt der von Erben des jüdischen Kunsthändlers Alfred Flechtheim beauftragte Rechtsanwalt Markus Stötzel. Er macht sich dafür stark, den Inhalt der Sammlung komplett offenzulegen. Das ist nach Auskunft von Reinhard Nemetz vorerst nicht geplant. Wer aber glaube, einen Anspruch zu haben, könne sich jederzeit an die Augsburger Ermittler wenden. Das sei am Montag schon mehrfach geschehen.

Ein wenig nimmt den Vorwürfen der Geheimhaltung die Schärfe, dass der Zeitraum falsch verbreitet worden ist. Nach dem „Focus“-Bericht fand die Razzia in Gurlitts Münchner Wohnung im Frühjahr 2011 statt. Richtig ist nach Angaben der Ermittler, dass das Appartement vom 28. Februar bis 2. März 2012 durchsucht und geräumt wurde, also ein Jahr später. Das Gemälde „Löwenbändiger“ von Max Beckmann ist somit nicht nach, sondern vor der Wohnungsdurchsuchung beim Kölner Auktionshaus Lempertz abgegeben worden. Es wurde für 864 000 Euro versteigert.

Den Namen des Mannes, der jetzt allen bekannt ist, nimmt Augsburgs Chefankläger nicht in den Mund. Einige Details gibt er aber doch preis: Die Geschichte nahm ihren Anfang am 22. September 2010 gegen 21 Uhr abends im Schnellzug EC 197 von Zürich nach München. Zwischen Lindau und Kempten kontrollierten Zollfahnder Gurlitt und fanden bei ihm 9000 Euro. Erst ab 10 000 Euro aufwärts müssen Bargeldsummen angemeldet werden. Dennoch machte der Betrag die Beamten stutzig. Oft genug unterbieten Täter ganz gezielt die 10 000-Euro-Marke. Die Fahnder starteten Vorermittlungen, die in ein offizielles Ermittlungsverfahren mündeten wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung und der Unterschlagung. So vergingen fast eineinhalb Jahre, bis die Ermittler einen Durchsuchungsbeschluss bei der Augsburger Ermittlungsrichterin erwirken konnten.

Am 28. Februar 2012 betraten sie die Wohnung von Gurlitt. Hinter einem Vorhang waren die Bilder versteckt – entgegen früheren Angaben „fachgerecht gelagert und sehr gut erhalten“, sagt Kunsthistorikerin Hoffmann. 121 gerahmte und 1285 ungerahmte Werke seien es gewesen, berichtet Nemetz. Öl, Tusche, Bleistift, Aquarell, Lithographien, sonstige Drucke. Die Liste der Künstler ist klangvoll: Max Liebermann, Max Beckmann, Otto Dix, Oskar Kokoschka, Henri de Toulouse-Lautrec, August Macke, Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso, Carl Spitzweg, Albrecht Dürer, Marc Chagall, Pierre-Auguste Renoir, Karl Schmidt-Rottluff, Christian Rohlfs, Karl Christian Ludwig Hofer.

Doch dass der geheimnisvolle Herr Gurlitt noch unbekannte Meisterwerke und auch viele nicht aus der „entarteten“ Kunst stammende Bilder hortete, führt mitten in die vielen Probleme der Ermittler. „Die Ermittlungen sind in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht aufwendig, schwierig und dauern an“, sagt Nemetz. Kann die Bilder womöglich sein Vater rechtmäßig gekauft haben, und befanden sie sich also rechtmäßig im Erbe des Sohnes? Die Rechtslage muss für jedes Bild geklärt werden. Doch die Staatsanwaltschaft hofft darauf, einen Weg zu finden, die Beweislast umzudrehen: Dann müsste Gurlitt beweisen, dass es seine Bilder sind. Momentan, und das ist wieder eine Überraschung, hat der merkwürdige Einzelgänger noch nicht einmal einen Anwalt genommen.

Selbstporträt von Otto Dix
| Selbstporträt von Otto Dix
Kunstexpertin Meike Hoffmann
| Kunstexpertin Meike Hoffmann
Ernst L. Kirchner: Melancholisches Mädchen
| Ernst L. Kirchner: Melancholisches Mädchen
Marc Chagall: Allegorische Szene
| Marc Chagall: Allegorische Szene
Sitzende Frau: Ein Bild des französischen Malers Henri Matisse aus dem Münchner Kunstfund (Detail).
Foto: DPA | Sitzende Frau: Ein Bild des französischen Malers Henri Matisse aus dem Münchner Kunstfund (Detail).
Salzburger Wohnsitz: Befinden sich in diesem Haus von Cornelius Gurlitt noch weitere Bilder?
| Salzburger Wohnsitz: Befinden sich in diesem Haus von Cornelius Gurlitt noch weitere Bilder?
 
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