
Fast 20 Jahre sei der Vorfall nun her, erzählt Sabrina Borst. Damals, während ihrer Ausbildung, sei das gewesen. "Da bin ich in einem Club von ein paar Mädels an der Garderobe aufs Übelste zusammengeschlagen worden", erzählt die heute 35-Jährige. Sie habe nur ihre Jacke holen wollen, sei gerade allein gewesen. Ohne ihre Freunde, die bereits draußen warteten. "Da hat es mich erwischt."
"Ich kenne das Ganze eher aus der anderen Perspektive", sagt Jeremy Bursalioglu, wenngleich er nie der "übermäßig Aggressive" gewesen sei. In seinem Umfeld in der Würzburger Zellerau sei Gewalt "Gang und Gebe" gewesen. Seine Freunde? "Ab der achten Klasse: Knast rein, Knast raus, Knast rein." Seit er 15 gewesen ist, heute ist er 33 Jahre alt, sei kein Tag vergangen, "an dem meine engsten Freunde mal alle zeitgleich frei waren". Ihn habe der Sport davor bewahrt, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.
Beide haben Gewalterfahrungen auf der Straße gemacht, beide boxen heute zusammen im Würzburger Boxteam von Bursalioglus Vater, Tommy Schult, in der Zellerau. Beim Training an diesem Abend läuft laute Musik, rund zehn Kämpfer sind da, machen sich warm, Schult gibt Anweisungen. Ein Ring, mehrere Boxsäcke.
Im Gespräch in der Kabine nebenan betonen Borst und Bursalioglu, wie viel ihnen das Boxen gebracht habe. Es geht ihnen nicht darum, dass sie durch ihre Fähigkeiten Konflikte auf der Straße für sich entscheiden könnten. Es geht darum, solche Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen.
Jeremy Bursalioglu muss sich nicht mehr vor seinen Freunden beweisen
"Seitdem ich boxe, das sind acht Jahre, bin ich nie wieder in eine solche Situation gekommen", sagt Borst. Sie habe gelernt, das Geschehen einzuschätzen, Vorgänge um sich herum im Blick zu behalten. "Das sind alles Faktoren, die man trainiert, wenn man so einen Sport macht." Borst habe ein ganz anderes Distanzgefühl entwickelt. Gelernt, Leute nicht zu nah an sich rankommen zu lassen. "Wenn jemand sauer auf mich zukommt, kommt er nicht zu nah. Ansonsten gehe ich zurück oder renne weg. Das ist sowieso immer das Beste."
Für Bursalioglu ist Selbstbewusstsein ein essenzieller Punkt. "In dem Umfeld, in dem ich groß geworden bin, haben gerade wir Jugendliche uns daran gemessen, wer der Stärkste in der Gruppe ist", sagt er. Heute habe er ein ganz anderes Standing, müsse sich nichts mehr beweisen. Und: "Ich habe es gar nicht mehr nötig, mich vor meinen Freunden zu profilieren. Oder dem Gegenüber zu zeigen, dass ich etwas auf dem Kasten habe." Bursalioglu weiß um sein Können. "Das spielt sich dann mehr im Kopf ab. Man weiß, so und so könnte es laufen, das lassen wir bleiben, wir gehen einen anderen Weg", sagt er lachend.

Zum Boxen gekommen ist Bursalioglu einerseits natürlich durch seinen Vater, andererseits auch ein wenig durch die Popkultur. "Kampfsport, Bruce Lee – das fand ich cool", sagt er schmunzelnd. Borst erzählt, sie habe ADHS, sei zudem eher "der impulsive Typ". "Ich war schon immer sportbegeistert", sagt die 35-Jährige, die in der Kindheit und Jugend sehr viel getanzt habe. Zwischendurch habe sie dann zehn Jahre gar keinen Sport gemacht, nach drei Jahren in Australien aber gemerkt, dass ihrem Leben der Sport fehlt. "Witzigerweise hat auch mein Papa früher geboxt, das hat mich immer begleitet. Als ich wieder da war, dachte ich mir dann, dass ich das Boxen mal wirklich ausprobiere."
Ein Mentor spielt eine wichtige Rolle
Ein wichtiger Faktor ist für beide ein Mentor. "Wir hatten hier auch Leute, die absolute K.-o.-Schläger gewesen sind, vom Wesen her aber gar nicht so hart, wie viele gedacht haben", sagt Bursalioglu. Gerade in solchen Fällen sei ein Trainer besonders wichtig. "Oftmals ist das schon eher ein Vater-Verhältnis, weil es sehr innig ist. Man verbringt in der Vorbereitung zum Teil fünf Abende in der Woche miteinander", sagt der 33-Jährige.
Für Borst spielt auch das Vertrauen eine große Rolle. "Es ist toll, wenn ich dem, der mit mir in den Ring geht, blind vertrauen kann." Sie sei "mega dankbar", dass sie ihren Vater immer an ihrer Seite hatte, "auch wenn er nie direkt mein Trainer war". Tommy Schult sei als Trainer super. "Dem liegen wir alle am Herzen", betont die 35-Jährige. "Er opfert seine Freizeit, setzt sich für uns ein, gibt alles."
Auch Christoph Ritz kennt Tommy Schult. Er ist diplomierter Sportwissenschaftler und Pädagoge sowie ehemaliger professioneller Kampfsportler. Seine Diplomarbeit hat Ritz zum Thema "Möglichkeiten der Gewaltprävention im Strafvollzug im Setting U-Haft durch Sport" geschrieben. Er kennt sich also aus mit dem, wovon Bursalioglu und Borst berichten.
Die Geschichten der beiden sind für Ritz "positive Paradebeispiele" und auf keinen Fall die Regel. "Das klappt so vielleicht bei zwei von zehn Menschen", betont er. "Wir müssen weg von den Plattitüden, dass es reicht, Kinder oder Jugendliche an einen Sandsack zu stellen." Das sei nicht ansatzweise genug. Vielmehr müsse es immer mehrere Begleitmaßnahmen geben, damit der Sport helfen kann.

Außerdem seien die Personen, die das Training machen, wichtig. "Für Jeremy war es gut, dass sein Trainer gleichzeitig sein Vater ist", sagt er. Ein stabiles Elternhaus mache 70 Prozent der Laufbahn eines Kindes aus. Dazu komme eine stabile Peergroup, also die Bezugsgruppe der Kinder und Jugendlichen neben dem eigenen Elternhaus. "Jeremy und Sabrina sind Einzelfälle, bei denen eine stabile Familie, eine vernünftige Peergroup, die sie sich irgendwann gesucht haben, und der Sport zusammengekommen sind", betont Ritz.
Bursalioglu sagt zum Abschluss des Gesprächs, dass jeder, der Interesse hat, sich ruhig trauen könne, beim Training vorbeizuschauen. "Oft haben die Leute das Vorurteil, sie bekämen hier direkt auf die Nase. Aber wir schlagen uns nicht." Eine Garantie könne er geben: "Wenn die Leute sich erstmal getraut haben zu kommen, kommen die meisten auch wieder, weil es ihnen Spaß macht."