Udo Luy hat sich auf dieses Gespräch vorbereitet. Es findet Anfang März, noch bevor im lokalen Fußball der zweite Saisonabschnitt nach der Winterpause startete, in seinem Arbeitszimmer in Kleinrinderfeld – zwischen Regalen mit Ordnern und Büchern, alle prall gefüllt mit Fußball – statt. Mehrere Berichte sind über Luy und sein tagfüllendes Hobby in den vergangenen Jahren erschienen. Wer mit ihm darüber spricht, den trägt er in sein Tagebuch ein. Auch dieses Treffen wird er darin festhalten.
Luy ist seit 20 Jahren Mitglied im Deutschen Sportclub für Fußball-Statistiken (DSFS), sammelt und ordnet historische Ergebnisse und Tabellen. Doch Luy arbeitet nicht nur den deutschen Fußball während der Kaiserzeit – sein Steckenpferd – auf, sondern sammelt und ordnet auch die Geschichte des FV 04 Würzburg.
"Außer Kickers und Nullvier haben vor dem Krieg im Würzburger Fußball andere Klubs doch gar keine Rolle gespielt. Also habe ich begonnen, Historisches von den Nullvierern zu sammeln", erklärt Luy, denn schließlich wurden die Kickers zu dieser Zeit bereits intensiv bearbeitet. Er bewahrt auf, was eines Tages wahrscheinlich verschwinden würde, vergessen wäre.
Als der FV 04 für drei Jahre bei der Turngemeinde Fußball spielte
Wie die Episode, dass die Würzburger Turner einst Fußball spielten. Was selbst deren Geschäftsführer solange bestritt, bis Udo Luy ihm den Beweis vorlegte: "Nun haben sich am 10. Juli dieses Jahres der als Vorkämpfer der Fußballsache am Platze geltende 1. Würzburger Fußballverein und die allseits bekannte und rührige Turngemeinde Würzburg von 1848 zusammengeschlossen (...) geboren aus dem Gedanken, mit vereinter Kraft gemeinsamen Zielen zu dienen", entdeckte Luy im Vereinsheft der Turner von 1920.
Was mit voluminösen Worten jener Zeit formuliert ist, hatte einen einfachen Grund: Der FV 04 hatte damals keinen eigenen Sportplatz. Drei Jahre währte der Zusammenschluss, bevor sich beide Vereine wieder trennten, "da Turnvereine ab 1923/24 nicht mehr an den Verbandsspielen des Deutschen Fußball-Bundes teilnehmen durften – die sogenannte Reinliche Scheidung", erklärt der Fußball-Historiker.
In Luys Nullvierer-Archiv finden sich Vereinszeitungen und Festschriften, Zeitungsausschnitte, auch die aktuellen, klebt er auf Blätter auf und heftet sie ab. "An historischen Daten bis 1945 hatte der Verein fast gar nichts", erinnert er sich an die Anfänge, als er begann, mehrere Ordner und Stapel, die im ehemaligen Geschäftszimmer des Vereinsheims lagerten, zu sortieren.
Suche nach Menschen, die noch Historisches vom FV 04 haben
Zuvor war er aktiv auf den damaligen Vereinsvorsitzenden Roland Metz zugegangen, der Luys Angebot, das historische Vermächtnis der Nullvierer zu pflegen, dankbar annahm. In sechs Holzkisten, die der Verein einst aus einem Nachlass erhalten und auf dem Dachboden aufbewahrt hatte, entdeckte Luy bis zu 70 Jahre alte Zeitungsseiten. "Es war trotzdem wirklich nicht viel da", stellte er fest und begann, das Vorhandene erst einmal digital zu sichern.
In den vergangenen beiden Jahren ging es ob der Corona-Pandemie und deren Einschränkungen nur spärlich voran. Umso mehr soll das Projekt nun wieder an Fahrt aufnehmen. Noch stecke er in der Phase des Suchens, unterdessen habe er aber auch begonnen, die Lücken systematisch zu schließen: "Ich suche daher mehr Leute, die Historisches vom FV haben. Es muss noch ein paar mehr in und um Würzburg geben. Sie müssten den Kontakt zu mir suchen, denn ich kann nur archivieren, was ich habe."
Das Archiv des Vereins sollte allerdings "in einer Hand sein, wenn Sachen parallel laufen, gefällt mir das als Historiker und Archivar gar nicht", gibt er zu. Zu groß wäre die Gefahr, dass daraus neue Unordnung entstünde. "Ich will dem Verein das Archiv erst zurückgeben, wenn es was hermacht, also ziemlich komplett ist – oder wenn ich merke, dass es bei mir nicht mehr geht."
Was er bislang hinzufügen konnte, sei "mindestens so viel, wie vorhanden war". Hätte er dem FV nichts geben können, wäre er von sich aus gar nicht erst auf Metz zugegangen: "Es gibt keinen Verein, der von mir nicht mehr bekommt als ich von ihm."
Den Fußball bis zur Kaiserzeit in 15 Büchern zusammengefasst
Den FV 04 betreue er nebenbei, sein Hauptwerk sind weiterhin die Bücher, die den deutschen Fußball von 1892 bis 1914 abbilden. Diese Epoche, als die Deutschen ihren heute liebsten Sport entdeckten, sich viele Vereine und sieben Verbände gründeten, hat er bereits in 15 Büchern zusammengetragen. "Im Prinzip bin ich schon eher ein Getriebener. Wenn ich eine Periode abgeschlossen habe, bin ich zufrieden, die kann ich dann für mich abhaken", sagt Luy über sich.
Aktuell schreibe er am vorletzten Band über den Westdeutschen Fußballverband, den er Mitte des Jahres vollenden möchte. Dann fehle ihm nur noch Berlin, doch davor hat er ob des Umfangs Respekt: "Es gab dort über 200 Vereine, ein Horror, und manche hießen Erika oder Brigitte. Das wird noch einmal zwei bis drei Jahre dauern", schätzt Luy. Doch dann hätte er nach gut 15 Jahren den Fußball der Kaiserzeit, nach Verbänden geordnet, komplett erfasst.
Akribisch angefangen, Ergebnisse und Tabellen zu sammeln, hat Luy 2008, sein Gebiet nach und nach eingegrenzt. Aus Archiven und Bibliotheken entstand mit den Jahren das "wohl größte Archiv an Sportzeitungen". 700 Gigabyte hat er auf seinem Computer gespeichert, eine riesige Datenmenge – das entspricht rund 140.000 Mal der Bibel, rechnet man für den reinen Text im "Buch der Bücher" eine Größe von fünf Megabyte, oder 175.000 MP3-Musikdaten mittlerer Qualität.
Der Köln-Fan hilft auch dem Rivalen aus Mönchengladbach
Es ist ein einzigartiges Werk über eine mehr als 100 Jahre zurückliegende Zeit, welches der gelernte Großhandelskaufmann, der sich, wenn er Zuhörende mit auf eine Reise in die Fußball-Vergangenheit nimmt, den Sprachklang seiner Heimatstadt Nürnberg erhält, geschaffen hat.
Und bis heute hat der 74-Jährige den Ansporn, jeden Fehler, der ihm begegnet, aus der Welt zu schaffen. Nur im Internet nicht mehr, denn da stehe einfach zu viel Falsches drin. Kontakt sucht er zu weiteren Enthusiasten, die ebenfalls Fußball-Historisches sammeln. Interesse habe er vor allem an alten Zeitungen und Zeitschriften.
Wenige Tage vor diesem Gespräch wandte sich Luy, selbst Anhänger des 1. FC Köln, seitdem er als Zehnjähriger den Kölner Nationalspieler Karl-Heinz Schnellinger getroffen hat, an Borussia Mönchengladbach, in deren Chronik ein Meisterfoto der falschen Saison zugeordnet ist: "Es geht mir da um die Sache." Fehler sind ihm ("Da bin ich Perfektionist") ein Graus.
Warum Udo Luy von den Vereinen und Verbänden enttäuscht ist
"Was ich habe, findest du in ganz Deutschland nicht mehr", sagt Udo Luy selbstbewusst. Acht bis zehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, arbeite er daran: "Meine Frau hat massenhaft Verständnis für mich. Natürlich fahren wir auch mal weg oder besuchen die Enkel."
Enttäuscht sei er von Vereinen und Verbänden, bei denen dies auf wenig Interesse stoße: "Ich biete an zu helfen, doch anscheinend will das keiner. Es ist bedauerlich, dass selbst Vereine ihrer eigenen Historie kein Interesse entgegenbringen, obwohl die meisten nichts darüber haben". Als Dank, wenn er doch mal einen weißen Fleck in der Historie eines Klubs füllt, lädt der ihn auch mal ins Stadion ein, obwohl ihn das Fußball-Erlebnis vor Ort, gibt er zu, heutzutage gar nicht mehr so sehr reize. Aber auch das trägt Luy dann ins Tagebuch ein.