Alfred Spall ist in Würzburg ein bekannter Mann. Der Diplom-Psychologe gründete 1987 die unterfränkische HIV- und Aidsberatung der Caritas und leitete diese bis zu seiner Pensionierung 2008. Was nicht allzu bekannt sein dürfte: Alfred Spall ist auch Fußballfan. Als solcher wandte sich der 78-Jährige im Fall Christian Eriksen mit einer E-Mail an die Sportredaktion. Der dänische Fußball-Nationalspieler war am Samstag während des EM-Vorrundenspiels gegen Finnland wegen eines plötzlichen Herzstillstands, wie sich später herausstellte, zusammengebrochen und hatte auf dem Rasen in Kopenhagen reanimiert werden müssen. Nach einer Unterbrechung war das Spiel weitergegangen. Spall nahm in seiner Mail Stellung zu einem in der Montagsausgabe veröffentlichten Kommentar mit der Überschrift "Die Uefa hätte eingreifen müssen" und der Aussage, dass der Wiederanpfiff eine Fehlentscheidung war. Seine psychologische Einschätzung: "Aus traumadynamischer Sicht hat man Christian Eriksen mit der Fortsetzung eher einen Gefallen getan." Warum, das erklärt Spall im Interview.
Alfred Spall: Zuerst wusste ich ja nicht, was los ist. Aber nach und nach wurde mir klar, dass etwas Ernsthaftes im Spiel ist. Auch ich habe gehofft und gebangt, dass er bald wieder aufsteht, sich schüttelt und weiterläuft.
Spall: Ein Spielabbruch hätte ihn zusätzlich belasten können. Er hätte sich vielleicht die Schuld dafür gegeben, auch dafür, die Zuschauer zu enttäuschen, die das Spiel sehen wollten. Die Übertragung war weltweit. Angeblich hat er ja selber gesagt: "Spielt weiter!"
Spall: Auf die Idee kann man kommen, das ist richtig. Aber ich sehe darin eher Stärke oder Größe, wenn ein Sportler sagt: "Es geht mir wieder gut, und die Mannschaft soll weitermachen auch ohne mich." Aus traumadynamischer Sicht hat man Christian Eriksen mit der Fortsetzung eher einen Gefallen getan.
Spall: Ich sehe einen Herzstillstand schon als Trauma, wobei Christian Eriksen die genaue Diagnose in diesem Moment ja noch gar nicht gekannt haben dürfte. Er wusste vermutlich nur, dass er mal weg war.
Spall: Ein Trauma ist eine starke psychische Verletzung, die mit Kontrollverlust, oft auch mit Lebensgefahr einhergeht und noch lange nachwirkt, etwa durch Wiedererleben in Flashbacks und Alpträumen. Weitere Symptome der Belastungsreaktion - in der Psychologie spricht man von einer Posttraumatischen Belastungsstörung - sind zum Beispiel Schlaflosigkeit, Übererregung, Reizbarkeit, Misstrauen und vor allem eben auch Scham- und Schuldgefühle. Christian Eriksen könnte sich also fragen: "Wieso muss ausgerechnet ich derjenige sein, der meiner Mannschaft so eine Belastung zufügt? Wir wollten doch gewinnen, und im Normalfall hätten wir auch gewonnen!" Natürlich nagt das auch am Selbstwertgefühl.
Spall: Ja, indem sie Anteil nimmt - ihn annimmt, ihm zuhört und mit ihm redet. Jemandem Schuldgefühle ausreden zu wollen, funktioniert in der Regel nicht.
Spall: Wenn man in einem Kreis steht mit der Angst, dass der auf dem Boden liegende Mitspieler vor den Augen stirbt und nach so einer schweren seelischen Erschütterung einfach duschen geht, dann ist das, wie Ruhe generell, nicht unbedingt eine Form der Verarbeitung. Bewältigung heißt für mich aktive Verarbeitung, und damit ist Weitermachen mit dem Wissen, der Mitspieler ist wieder wohlauf, die bessere Form.
Spall: Schutz kann zweierlei bedeuten: aufhören oder erst recht weitermachen. Ich bin der Meinung, dass die Uefa schützend eingreifen soll, wenn durch Weiterspielen eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht, zum Beispiel eine Panikreaktion der Zuschauer im Stadion. Jeder Fall ist letztlich aber eine Einzelfallentscheidung. Dass in diesem Fall der Ball wieder rollte, war ein sporttypisches Signal: Alles wieder gut! Die Freude über Eriksens Rückkehr ins Leben musste einen Ausdruck finden, und dafür gab es in diesem Moment keinen adäquateren.
Spall: Ich würde das Trauma mit ihr bearbeiten, sofern erforderlich. Der Fachausdruck dafür heißt Debriefing. Es geht darum, dass man sich an das traumatische Erlebnis erinnert und erzählt, was man in dieser Situation wahrgenommen hat, ohne es zu deuten oder zu korrigieren.
Spall: Das ist gut gesagt. Denn Verdrängung ist immer schlecht.
Spall: All das. Die Resilienz, also die seelische Stärke und Widerstandskraft, wird durch so ein Erlebnis sicherlich gewinnen, und das wiederum kann zusammenschweißen und im Verlauf des Turniers noch mal eine eigene Dynamik entwickeln.
Spall: Vor dem nächsten Turnier Elfmeter üben.