Irgendwann am Anfang der vergangenen Saison, als noch niemand ahnte, welchen verrückten Verlauf sie nehmen würde, erinnerte sich Matthias Obinger an seine Kindergartenzeit. Mitte der Achtzigerjahre war das, als er in die Villa Wichtel in Versbach ging. Genauer gesagt in die Igelgruppe. „Damals war ich der Igelchef“, erzählte er mit seinem Jungenlächeln und dem Ton eines Mannes, der weiß, dass er noch immer ein Kindskopf ist. „Und heute bin ich halt der Wölfechef.“
Eine weiche und eine stachelige Seite
Das Bild des Igels, es passt zum 37-Jährigen, der seine zweite Saison als Cheftrainer der DJK Rimpar Wölfe fast mit dem Aufstieg in die Bundesliga gekrönt hätte. Und der damit, wie sein Mentor und Rimpars sportlicher Berater Rolf Brack meint, zumindest in die „Gilde der jungen, interessanten Trainer der Prokops (38, Bundestrainer, zuvor SC DHfK Leipzig), Bürkles (36, vereinslos) und Wiegerts (35, SC Magdeburg)“ aufgestiegen ist. Zwar darf er sich nun nicht in der Beletage des deutschen Handballs beweisen, aber in den nächsten beiden Jahren noch einmal bei den Wölfen: Bis 2019 hat er seinen Vertrag verlängert.
„Ich freue mich auf meine dritte Saison, aufs erste Heimspiel, auf viele attraktive Gegner – und ich werde alles dafür tun, dass wir wieder zur erweiterten Spitze gehören“, sagt Obinger. Wie ein Igel, so hat auch er zwei Seiten. Eine weiche, die ihn schon damals im Kindergarten ausmachte. Und eine stachlige, die sein Profil als Trainer geschärft hat.
„Matthias war ein ganz liebes, soziales Kind“, erzählt seine damalige Erzieherin und heutige Leiterin der Villa Wichtel, Petra Götz-Bergmann. „Er war stets auf Harmonie bedacht, aufmerksam, alle in die Gruppe einzubeziehen und bemüht, diese zusammenzuhalten.“
Diese Eigenschaft war ihm in seinem ersten Jahr als DJK-Coach manchmal noch eher Hindernis als Hilfe. Angetreten als Bruder von Linksaußen Sebastian Kraus, als Kumpel von Torwart Max Brustmann und als „einer von uns“, wie sein Assistent Josef Schömig sagt, wollte er es möglichst allen recht machen. In seiner Mannschaft.
Aber auch in seinem Heimatverein, wo man ihm nach nur einer Trainerstation beim Drittligisten HSC Bad Neustadt mit dem Wolfsrudel das Heiligtum anvertraut hat, wo ihn alle seit Kindesbeinen an kennen, wo so viele familiär und freundschaftlich miteinander verwoben sind wie Fäden in einem Flickenteppich – über den man auch stolpern kann.
Harmonietyp im Herzen der Handballfamilie
Tatsächlich lief es sportlich zunächst mit ihm nicht so rund wie mit seinem von vielen im Verein verehrten Vorgänger Jens Bürkle. Der hatte die Wölfe 2013 nicht nur zum Aufstieg in die Zweite Liga geführt, sondern in seinem zweiten Jahr auch fast schon in die Bundesliga. Auf Platz fünf hatte sich Bürkle zu den Recken des TSV Hannover-Burgdorf verabschiedet und damit ein Loch hinterlassen, das Obinger naturgemäß nicht sofort schließen konnte, sondern in dem er sich vielleicht manchmal lieber versteckt hätte. Wie ein Igel in einem Laubhaufen.
Stattdessen aber erfüllte er seine Rolle als „einer von ihnen“, und das im Herzen der Handallfamilie, die Segen und Fluch zugleich sein kann. Ersteres, weil viele Dienstwege kurz und unbürokratisch zu gehen sind. Letzteres, weil jeder reinquatscht. Obinger nahm sich Kritik zu Herzen, statt sich rechtzeitig genug zusammenzurollen. Doch irgendwann kam der Punkt, da merkte er selbst: „Ich muss mich von dem Gedanken verabschieden, es jedem immer recht machen zu wollen. Ich bin zwar ein Harmonietyp, aber das geht im Leistungssport nicht immer.“ Das sagte Matthias Obinger in einem Interview mit dieser Redaktion Anfang Juni 2016, kurz bevor seine erste Saison als Wolfsdompteur auf Platz 14 endete.
„Fleißig, akribisch, innovativ"
Fast genau ein Jahr später hätte er Rimpar um ein Haar in die Eliteklasse geführt. In der Entwicklung der Mannschaft spiegelt sich auch seine persönliche wider. „Obi hat in den ersten zwei Jahren so viel gelernt wie die Spieler“, sagt Schömig, der als Co-Trainer seit 2001 auf der DJK-Bank sitzt und der Obinger als „fleißigen, akribischen Arbeiter“ beschreibt. So wie alle, die eng mit ihm zusammenarbeiten. Geschäftsführer Roland Sauer sagt: „Obi ist extrem engagiert, hochmotiviert und sehr innovativ. Er hat sich hervorragend gemacht.“ Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als der frühere Landesliga-Linkaußen selbst nie Handballprofi war wie Christian Prokop, Jens Bürkle oder Bennet Wiegert.
„Laptoptrainer mit hoher fachlicher Expertise"
„Dafür bringt er eine hohe fachliche Expertise mit, die als Erfolgsfaktor im Sport eine immer größere Rolle spielt“, sagt Brack, wie Obinger promovierter Sportwissenschaftler, nur mit zweieinhalb Jahrzehnten mehr Trainererfahrung in der Bundesliga. Aufgrund Obingers „guter Analysefähigkeit und wissenschaftlicher Trainingssteuerung“ vergleicht Brack den 37-Jährigen auch gerne mit Fußballlehrer Thomas Tuchel; beide nennt er „Laptoptrainer“. „Matthias‘ Analyse setzt dabei immer bei seinen eigenen Fehlern an.“
Der in der Branche „Handball-Professor“ genannte Brack und sein einstiger Lehrling kennen sich seit der A-Lizenz-Ausbildung 2011. „Damals ist mir Matthias als bescheidener, zurückhaltender, respektvoller und sehr sympathischer junger Mann aufgefallen. Wenn er eines nicht war, dann der forsche Draufgängertyp mit überzogenem Selbstvertrauen."
Das sei Obinger bis heute nicht – wenngleich er so wirken kann, auch kühl und kalkulierend. Allerdings, so Brack, erlebe er ihn inzwischen durchaus als mutigen und bestimmenden Trainer, „der bewusst auch in die Bad-Guy-Rolle schlüpft“.
Hitzkopf und Fühler
Als seine Schützlinge am drittletzten Spieltag der vergangenen Saison beim bereits abgestiegenen TuS Ferndorf zur Halbzeit mit 12:16 zurücklagen, soll Obinger in der Kabine vor Wut den Matchplan zerrissen haben. „Matthias kann sehr aufbrausend sein, wenn es nicht nach seinem Kopf geht“, hat sein Bruder Sebastian einmal erzählt. Dann zeigt der Igel seine Stacheln und kratzt.
Dabei ist Obinger so empathisch und emotional intelligent, dass er weiß, wie er seine Spieler sonst anzufassen hat – und das durchaus wörtlich. Der eine braucht‘s, wenn der Coach ihm anerkennend oder aufmunternd über den Kopf streichelt, der andere, wenn er ihm einen kernigen Klaps auf den Po verpasst. Das macht den Typ Fühler aus, als der er sich selbst einschätzt; da kommt ihm seine weiche Seite zugute.
So hat ihn auch das Wissen darum, wann er welche Seite zu zeigen hat, um die Emotionen seiner Schützlinge so erfolgversprechend wie möglich zu steuern, zu einer Führungspersönlichkeit reifen lassen. Wenn er heute während der Spiele an der Seitenlinie auf- und abmarschiert, gestikuliert und coacht, dann wirkt er sicherer, und ja, auch autoritärer als vor zwei Jahren. Der Oberwolf traut sich mehr. Wahrscheinlich, weil er sich auch mehr zutraut. Wie beispielsweise im „Halbfinale“ um den Aufstieg, als der TV Hüttenberg nach einer Sechs-Tore-Führung der Rimparer bis auf 21:22 herangekommen war und Obinger in der brenzligen Situation nicht etwa eine Auszeit nahm, sondern die Taktik änderte und den siebten Feldspieler brachte. Ein Kniff, der letztlich entscheidend war für den späteren Sieg. Man könnte ihn den Meisterbrief des erfolgshungrigen Trainers nennen.
Herr der Floskeln und des Phrasenschweins
Ehrgeizig war Matthias Obinger als Kind schon, wie seine frühere Erzieherin Petra Götz-Bergmann berichtet: „Beim Elternfest 1985 war er in einer Aufführung nicht ohne Grund der Kopf der Raupe Nimmersatt. Er übernahm damals auch gerne Sprechrollen.“
Reden hört sich der 37-Jährige bis heute ganz gerne. Dabei schießt er in Anflügen akuten Übermuts auch mal übers Ziel hinaus. „Matthias ist der Herr der Floskeln“, hat sein jüngster Bruder Stefan, Mitglied im Wölfe-Fanklub „Supporters Rimpar“, einmal gesagt. Worauf der dritte Bruder im Bunde, der mittlere, Spieler Sebastian, meinte: „Matthias kann mühelos alleine ein Phrasenschwein mästen.“ Was Obinger auf derlei „Papperlapapp“ antworten würde? Vermutlich etwas in der Art: „Wer den Mund spitzt, muss auch pfeifen.“ Um ein Bonmot ist er nämlich nie verlegen, und manchmal kann er verdammt witzig sein. Eine seiner „Lebensweisheiten“: „Wer einen Teich trockenlegen will, sollte nicht die Frösche fragen.“
Am nahbarsten im bittersten sportlichen Moment
Zuweilen macht es den Eindruck, als wolle Obinger seinen Gesprächspartnern mit seiner Eloquenz und seinem Charme, mit seiner angenehmen Verlässlichkeit und vordergründigen Geselligkeit das Gefühl geben, nahbar zu sein. Wie ein guter Kumpel, der er eben für viele doch noch immer gerne ist.
Am nahbarsten aber war er vielleicht in seinem bittersten sportlichen Moment: Als er nach dem verlorenen „Finale“ um den Aufstieg in Lübeck gegen den VfL Bad Schwartau hemmungslos weinte und sich von der großen Familie trösten ließ, zeigte er sich überraschend verletzlich.
Einzelgängerischer Steppenwolf
Sonst soll er ein etwas einzelgängerischer Steppenwolf sein, der selbst in der Euphorie nach Siegen für ein paar Minuten das Alleinsein sucht. Oder eben ein Igel, der die meisten Menschen nur so nahe an sich heranlässt, wie seine Stacheln lang sind. Aus seinem Privatleben ist nicht viel mehr bekannt, als dass er stolzer Vater einer einjährigen Tochter namens Lotta ist, passioniert Golf spielt und keinen Alkohol trinkt. „Spielt ja auch keine Rolle für meinen Job als Trainer“, sagt er knapp.
Ein „schlauer Trainer“ sei er jedenfalls, meint Brack und fügt hinzu: „Matthias hat wie jeder die Mannschaft, die er verdient.“ Offensichtlich ist Obinger auch ein ehrlich bescheidener Trainer, wenn er zugibt: „Wahrscheinlich war ich früher doch eher nur der heimliche Igelchef.“ Im Rudel ist er inzwischen jedenfalls der tatsächliche Wölfechef.