
Manche Geschichten entfalten ihre Ironie erst Jahre später. Die bisherige berufliche Biografie von Dr. Leonard Achenbach ist eine solche Geschichte. Am Anfang der längst steilen Karriere des 34-Jährigen stand ein Numerus clausus. Ein NC, "der nicht gereicht hat", um genau zu sein, sagt der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie an einem Novemberabend in seinem Büro im König-Ludwig-Haus in Würzburg und grinst.
Seine Durchschnittsnote im Abitur war nicht gut genug, um direkt an einer Universität in Deutschland ein Medizinstudium aufzunehmen. Also entschied sich der gebürtige Oberbayer, der als Kind in Ebersberg mit dem Handballspielen begonnen und sich dabei recht talentiert angestellt hatte, in Ungarn zu studieren, auf Englisch. Dort schloss sich der Spielmacher auch einem Handball-Zweitligisten an.
Dass er Jahre später einmal als Mannschaftsarzt beim deutschen Fußball-Rekordmeister landen und die Frauen des FC Bayern München in der Bundesliga und Champions League verarzten würde, wie etwa zuletzt beim November-Gruppenspiel gegen Paris St. Germain in der französischen Hauptstadt, davon hat er damals noch nicht mal geträumt. "Bayern war im Fußball immer mein Lieblingsverein", bekennt er.
Aus einer Knieverletzung entsteht die Idee für eine wegweisende Studie
Beim Handball, auch so eine Ironie der Geschichte, verletzte sich Achenbach am Knie. "Schon damals habe ich mich gefragt: Was hätte ich machen können, um mich nicht zu verletzen?" Er wälzte Fachliteratur. Und stellte fest: "Eigentlich gab es schon Erkenntnisse, die aber kannte keiner. Dieses Wissen spielte in Trainerausbildungen keine Rolle."
Achenbach war zu der Zeit, 2015, selbst Coach der weiblichen Handball-C-Jugend in Ebersberg, die er zur bayerischen Meisterschaft führte. Und überlegte: "Wie kann ich die Theorie in die Praxis umsetzen, um Verletzungen vorzubeugen?" Zudem stand er kurz vor seiner Approbation als Arzt. "Da dacht' ich mir", sagt er mit leicht bayerischem Idiom: "Mach' ich es g'scheit und eine Level-1-Studie draus." Also eine Studie auf dem höchsten wissenschaftlichen Niveau.
Gedacht, getan. An Jugendmannschaften, die sich auf eine Ausschreibung beim Bayerischen Handball-Verband für die Studie bewarben, erprobte er sein Übungsprogramm zur Kräftigung und Aktivierung der für den Handball spezifischen, wichtigen Muskulatur und wies nach: "Damit ließ sich mindestens die Hälfte der schweren Kniegelenkverletzungen reduzieren." Aus der Studie wurde seine Doktorarbeit. Und ein Türöffner zum Profisport.
Rund 50 Tage pro Jahr im Einsatz für den FC Bayern und die U-17-Juniorinnen
Für die Facharzt-Ausbildung wurde Achenbach "vom Fifa Medical Center of Excellence in Regensburg angeworben, nachdem sie da von meinem Übungsprogramm erfahren hatten". Während der dreieinhalb Jahre dort machte er Studien im Fußball und nebenbei mit Erst- und Zweitligisten im Handball, Basketball und Eishockey.

So kam er in Kontakt mit dem Campus des FC Bayern. Bei einem internationalen Frauenturnier in München 2019 wurde er angefragt, als Arzt auszuhelfen. "Ich war eine Woche dabei, das hat gut geklappt. Ein Jahr später bekam ich das Angebot, fest dazuzugehören." Inzwischen ist Achenbach in der vierten Saison einer von vier teils wechselnden Mannschaftsärzten bei den FCB-Frauen und zuständig für Trainingslager und Spielbetreuung. Die gleiche Funktion hat er bei den U-17-Juniorinnen beim Deutschen Fußball-Bund (DFB).
Rund 50 Tage pro Jahr sei er für beide Teams im Einsatz. Wie das geht mit einer Vollzeitstelle als stellvertretender Bereichsleiter Schulter- und Ellenbogenchirurgie am König-Ludwig-Haus? "In meiner Freizeit, mit vielen Wochenenden und Urlaubstagen", sagt Achenbach, der sich während des Gesprächs immer wieder die Augen reibt. Im vergangenen Jahr habe er drei freie Wochenenden gehabt. "Aber es macht mega viel Spaß."
Achenbach verfolgt Spiele mit anderem Blick als ein Zuschauer
Achenbachs Hauptaufgaben an Spieltagen der Bayern-Frauen und DFB-Juniorinnen: entscheiden, ob angeschlagene Fußballerinnen einsatzfähig sind und, falls sich jemand auf dem Feld verletzt, ob ein Weiterspielen möglich ist. Plus eine ausführliche Diagnostik und Therapieplanung im Anschluss. Insgesamt "verarztet" er 50 Spielerinnen, 23 in der U 17 und 27 beim FCB.
Mit manchen arbeitet der Würzburger über einen längeren Zeitraum zusammen. "Anders als bei den kurzen Arzt-Patient-Kontakten in der Klinik lerne ich dann auch die Menschen hinter den Spielerinnen kennen, ihre Höhen und Tiefen", erzählt er. "Obwohl im Münchner Kader fast alle für Nationalmannschaften auflaufen, sind sie auf dem Boden geblieben."
Achenbach reist als Teil des Team-Trosses mit zu den Spielen. Immer mit dabei: ein Arztkoffer, der Medikamente für Husten, Schnupfen und Fieber enthält, Spritzen, Ultraschall, Akupunkturnadeln für muskuläre Beschwerden sowie ein Notfall-Equipment mit Defibrillator und zur Beatmung.
Während Spielen muss Achenbach auch manchmal selbst auf den Rasen
Während Spielen sitzt Achenbach mit auf der Bank. Obwohl er die Atmosphäre in den Stadien durchaus wahrnehme, verfolge er das Geschehen auf dem Rasen nicht wie ein Zuschauer. "Ich versuche, einen medizinischen Überblick zu behalten. Wenn eine Spielerin zum Beispiel gefoult wird und zu Boden geht, dann bleibt mein Blick nach der Aktion erst mal bei ihr. Ich achte darauf, wie sie sich bewegt."
Durchschnittlich in jeder zweiten oder dritten Begegnung muss der Arzt auch selbst aufs Feld – dann, wenn eine Spielerin erst mal nicht mehr von alleine aufsteht. Meist könne er aus vielen Videoanalysen ("Ich schaue mir alle Kreuzbandrisse der Ersten Bundesliga an") schnell eine Verdachtsdiagnose stellen. "Profis haben auch ein gutes Körpergefühl. Sie wissen oft selbst sofort, was los ist." Einmal habe er eine Platzwunde am Kopf nähen müssen. Ein Kollege von Achenbach, der auch als Notarzt ausgebildet ist, behandelte sogar schon mal einen Zuschauer mit einem Herzinfarkt.

Die Arbeit beim DFB unterscheidet sich für Achenbach dahingehend, dass er es bei der U 17 mit "medizinisch noch ungebildeten" Nachwuchstalenten zu tun hat. "Sie fürchten am Anfang: Wenn sie mit einem Arzt Kontakt haben, dann spielen sie nicht." Auch das Thema Prävention sei in dieser Altersgruppe sehr wichtig. Oft gebe er Übungen mit nach Hause.
Vom ehemaligen Baskets-Mannschaftsarzt Kai Fehske nach Würzburg gelotst
In seinem eigenen Zuhause studiert Achenbach auch nach Feierabend in der Klinik oft noch Fachliteratur. Mit Ausruhen hat es der Mann, der bei der größten Fußballmedizin-Konferenz der Welt (Isokinetik) als einer von fünf internationalen Preisträgern im Frauenfußall als "Next-Generation-Leader" ausgezeichnet wurde, offenbar nicht so. Nach Würzburg gelotst wurde er 2020 übrigens von Kai Fehske, jahrelang Mannschaftsarzt der Würzburg Baskets und Vorsitzender des Vereins Handballärzte Deutschland.
Aktuell steht der 34-Jährige kurz vor dem Abschluss seiner Habilitation; Thema "Prävention von Sportverletzungen im Mannschaftsleistungssport". Auch außerhalb des Fußballs ist Achenbachs Expertise in Sportverbänden gefragt. Er jedoch kann sich auch eine eigene Praxis in München vorstellen. Vielleicht wird er dort ja der nächste Müller-Wohlfahrt (langjähriger Männer-Mannschaftsarzt des FC Bayern und der deutschen Nationalmannschaft, Anm. d. Red.)? Leonard Achenbach lacht. Es wäre die vielleicht größte Ironie seiner Geschichte.