
Wirklich gewusst, worauf er sich da einlässt, hat Gianfranco Leandrin nicht. Und was er dann wie machen muss, das bekam er erst in dem Moment gesagt, als es so weit war. Und trotzdem steht der 53-Jährige rund einen Monat später als Wing-Chun-Weltmeister in seinem Trainingsraum zu Hause in Würzburg. "Ich habe mich vor Ort einfach angepasst", sagt er und lacht.
Ende August war Leandrin in der südchinesischen Millionenstadt Fuqing unterwegs und hat an der Wing-Chun-Weltmeisterschaft teilgenommen. Für den Wing-Chun- und Fitnesstrainer eine neue Erfahrung. "Von uns aus haben wir so etwas noch nie gemacht. Bei uns gibt es keine Wettkämpfe, weil wir eigentlich Spezialisten für Selbstverteidigung sind", erklärt er. "Es geht darum, dass du keine Einschränkungen hast: keine Gewichtsklassen, keine Größen."
Wing Chun, ein Kung-Fu-Stil, ist eine chinesische Kampfkunst, in der der Fokus auf Selbstverteidigung liegt. Der bekannteste Stil ist der von Yip Man, der unter anderem der Lehrer von Martial-Arts-Legende Bruce Lee war. Eine alternative Schreibweise lautet WingTsun. Im deutschsprachigen Raum ist das EWTO-WingTsun, wobei die Abkürzung für die Europäische WingTsun-Organisation steht, der bekannteste Zweig. Aus diesem stammt die Nahkampf-Variante "Magic Hands", entwickelt von Keith Kernspecht, die auch Leandrin macht.

Leandrin, der seit 30 Jahren Wing Chun betreibt, hat aus China sechs Medaillen, unter anderem zwei goldene, und den Pokal für den Gesamtsieg mitgebracht. Eingeladen gewesen waren verschiedene Verbände aus der ganzen Welt: USA, Bulgarien, Niederlande, Argentinien, China. Und eben das Team Deutschland, das aus Leandrin sowie einer Frau aus Norddeutschland und deren Tochter bestand.
Erst bei der Siegerehrung hat Leandrin von der Platzierung erfahren
Vor Ort hat Leandrin verschiedene Wing-Chun-typische Techniken, die Formen, vorgeführt und am Kampfwettbewerb teilgenommen. Wie so ein Kampf aussieht, "wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht", sagt der Würzburger und lacht. Los ging es aus einer speziellen Trainingsposition, mit sich berührenden Armen beider Kontrahenten. Wer zuerst angreifen darf, wurde ausgelost. Es ging darum, nicht wild drauflos zu hauen, sondern Kontrolle und Technik unter Beweis zu stellen.

Leandrins Wettkampf ging über zwei, drei Stunden. Immer wieder sprang er von einer Station zur nächsten. Verständigen konnte er sich dabei kaum. Bis zur Siegerehrung am folgenden Tag habe er nicht einmal gewusst, wie er bei den Formen abgeschnitten habe, berichtet Leandrin. "Während der Probe saß ich erst mal hinter der Bühne. Dann ging es los. Ich bin rauf, habe mich an die richtige Stelle gestellt, bin dann wieder runter." Soweit keine Überraschung. Denn dass er den Kampf gewonnen hatte, sei schließlich eindeutig gewesen.
Dann seien die nächsten an der Reihe gewesen – für die Formen. "Und plötzlich kommt eine Frau zu mir und sagt mir: Du musst dort rauf." Warum, habe er in diesem Moment weder gewusst noch geahnt. Bis die Frau zu ihm gesagt habe, dass er Erster geworden sei. "Und ich dachte mir: woah, cool", sagt Leandrin und grinst verschmitzt.
Shaolin-Mönche fragen nach einem Foto mit dem Weltmeister
Einer von Leandrins persönlichen Höhepunkten ereignete rund um die Probe zur Siegerehrung. Während er dort gestanden habe, seien Shaolin-Mönche in den Raum gekommen, berichtet der Kampfsportler. "Natürlich finde auch ich die cool." Also ließ er sich ein Selfie mit ihnen nicht entgehen. Etwas später, nachdem der 53-Jährige seine Medaillen bekommen hatte, seien dann die Mönche wiederum auf ihn zugekommen, um nach einem Bild zu fragen: "Das war krass."

Die Faszination von Wing Chun liegt für Leandrin im System. "Du lernst, wie du Kraft ausnutzt", sagt er. "Und egal, wie alt du bist: Du wirst immer noch besser." Ein Wing-Chun-Kämpfer kann die Kraft seines Gegenübers umlenken und letztlich gegen ihn verwenden. Beispielsweise indem er einen Schlag so abwehrt, dass das Gegenüber nach vorne fällt. Je mehr Kraft das Gegenüber dabei einsetzt, desto mehr Kraft lenkt der Wing-Chun-Kämpfer zurück.
Für eine reale Bedrohungssituation empfiehlt Leandrin aber immer die Vermeidung. "Alles Vermiedene ist gewonnen", sagt er. Schließlich wisse man nie, wen man vor sich habe. Es sei ja sogar möglich, dass der andere eine Waffe mit dabei habe. "Ein Problem dabei ist, dass die Leute oft nicht merken, wenn eine Waffe im Spiel ist." Wenn der Mensch gestresst sei, fokussiere er sich auf die Augen seines Gegenübers und merke oft nicht, wenn dieses zum Beispiel nach einem Messer greife. "Diese Achtsamkeit trainierst du im Wing Chun mit der Zeit."