Am Mittwoch war im Hause Shekov die Frau wichtiger als der Fußball. Marc Shekov ist 33 Jahre alt, Eintracht-Frankfurt-Fan, begleitet seinen Lieblingsklub auch außerhalb Deutschlands - und ist daheimgeblieben. Dass es in Neapel beim Champions-League-Rückspiel zwischen dem SSC und den Hessen schwere Krawalle geben würde, "war klar. Dass meine Lebensgefährtin sich Sorgen machen muss um meine Gesundheit", wollte der Würzburger ausschließen. Er sei kein Ultra, kein Hooligan, sondern ein ganz "normaler" Fan. Doch als solcher sei man auswärts eben ratzfatz mittendrin statt nur dabei.
In Neapel waren, das zeigen die vielen Amateurvideos im Netz, kaum "normale" Gästefans. Die überwiegend schwarz gekleidete, ohne Tickets und mutmaßlich ohne allzu großes Interesse am Fußballspiel angereiste Gruppe aus 470 deutschen und rund 200 befreundeten Atalanta-Bergamo-Ultras, von denen die Polizei sprach, agierte am Mittwochnachmittag auffallend homogen - und anscheinend mit purer Lust an Gewalt. Ganz besonders beim Angriff auf Polizisten, die sie mit Stühlen, Flaschen und Bengalos bewarfen sowie mit Leuchtkugeln beschossen.
Diese heftigen Krawalle verfolgte Shekov am Fernsehen und im Internet. Und hat sich, auch auf Basis seiner Szene-Kenntnis, ein Bild gemacht: "Es stellt sich kontrovers dar. Was die Stadt Neapel da entschieden hat, ist ein Armutszeugnis", spielt er auf die im Vorfeld ausgesprochene Verbannung von Eintracht-Fans an. "Wer die Sicherheit bei einem Fußballspiel nicht gewährleisten kann, hat in diesem Wettbewerb nichts verloren. Dass die Maßnahme nicht deeskalierend war, hat man gesehen. Erreicht wurde das Gegenteil: Es hat sich Wut angestaut." In Absenz friedlicher Anhängerschaft hatten die Gewalttäter die Bühne für sich alleine.
Erinnerungen an schöne Auswärtserlebnisse mit der Eintracht
Shekov ist Mitglied im Eintracht-Fanclub (EFC) Adler Würzburg, 2019 gegründet, 70 Mitglieder stark und vom Verein offiziell anerkannt. Er möge es beim Fußball friedlich, erzählt von schönen Begegnungen. Wie am Europa-League-Finalabend gegen Glasgow 2022 in Sevilla, als er und seine Kumpels mit Rangers-Fans Trikots getauscht hätten. Oder als er einer von 40000 Eintracht-Fans in Barcelona war bei der legendären Auswärtsparty im Stadion Camp Nou.
In Neapel war vom gewaltbereiten Teil der Frankfurter Ultras und Hooligan-Gruppierungen nie eine Party geplant. Shekov: "Randale hast du, wenn sich zwei darauf ausgerichtete Gruppierungen suchen und finden. Solche Hardcore-Ausschreitungen braucht kein Mensch."
Und schon gab's tags darauf bereits nahezu identische Kampfszenen rund um die Europa-League-Partie zwischen Real Sociedad San Sebastián und AS Rom. Es "knallt" inzwischen, das dokumentieren Videos im Netz, bei gefühlt jedem zweiten internationalen Fußballspiel - nur wird das lediglich in den betreffenden Ländern wahrgenommen. Der mediale Mainstream schaut immer noch auf die Hooligans in England und ist im Einzelfall irritiert, dass beispielsweise Dänemarks Szene inzwischen als krasser gilt.
Shekov, wenn nicht gerade mit der Eintracht unterwegs als Key-Account-Manager tätig, verurteilt auch die Neapolitaner Ultras: 150 von ihnen hätten die Frankfurter angegriffen. Er redet von Selbstverteidigung. Videos, die italienische Gewalttäter mit Stangen bewaffnet und zur eigenen Sicherheit Motorradhelme tragend auf Menschenjagd zeigen, könnten diese These ein Stück weit stützen.
Selbst Eintracht-Vorstandsmitglied Philipp Reschke erwähnte zunächst diesen Überfall, verurteilte dann aber zuvorderst die Aktionen der "eigenen" Ultras aufs Schärfste: "Diese Gewalt ist durch absolut nichts zu rechtfertigen."
Forderungen, die Eintracht müsse endlich ihr Fan-Problem aufarbeiten, die nahezu komplett identifizierten Gewalttäter von Neapel sanktionieren, findet Shekov dennoch "schwierig": "Auf den Videos erkennt man nicht immer die Entstehungsgeschichte. Womöglich hat ein Einzelner einen Stuhl nur in der Hand, um sich selbst zu verteidigen, nachdem er vorher zwei Flaschen an den Kopf bekommen hat." Die minutenlange, massive Frankfurter Attacke auf die Polizei spricht allerdings eine eindeutige Sprache.
FCN-Fan-Beauftragter Jürgen Bergmann über die Ultra-Szene
Einer, der sich mit dieser radikalen Fan-Szene beruflich beschäftigt, ist der Würzburger Jürgen Bergmann. Der 59-Jährige ist seit 2007 beim 1. FC Nürnberg festangestellt als Fan-Beauftragter, hört zum Saisonende jedoch aus persönlichen Gründen auf. Er erklärte im Interview mit dieser Redaktion Ende vergangenen Jahres, dass die Ultraszene auch deswegen so explodiere, weil eine neue Generation das Kommando übernommen habe. "Kein deutsches Phänomen, sondern ein europäisches." Das ließe sich auf einschlägigen Facebook-Seiten wie "Gruppaof" oder "Hooligans TV" verfolgen.
Warum ausgerechnet jetzt? "Wir hatten den massiven Cut durch Corona. Die Gruppen waren weg von den Stadien, hatten Existenznöte. Die neue Generation legt deutlich mehr Wert auf Pyrotechnik" und rücke die auf irgendwelche Wiesen "verschwundene" Gewalt wieder in Innenstädte und näher an die Stadien. Gefallen sei ein Tabu: Es werde plötzlich mit Pyro gezielt auf Menschen geschossen. "Da geht es um die Gefährdung von Menschenleben."
Bergmann befürchtet eine sich immer schneller drehende Exzess-Spirale
Dass die Exzess-Spirale sich seit Monaten immer schneller dreht, ein Ende nicht in Sicht scheint, wundert Bergmann nicht. Auch, weil Kampfsport-Ausbildung in der Szene an Bedeutung gewinne. Es sei ein europaweiter Randale-Wettbewerb entfacht: "Es geht um Reputation in den einschlägigen Foren. Jede Gruppe möchte die krasseste sein. Immer noch einen draufsetzen. Die Gruppen wollen sich zeigen." Diesmal haben sich die Eintracht-Ultras und -Hooligans gezeigt. Trotz Verbot.