Der Kindheitstraum vom Fliegen. Die Arme auseinander nehmen und abheben. Wenn Andreas Gessner den Boden unter den Füßen verliert, findet er gleichzeitig Halt. Geborgenheit. Beim Gleitschirmfliegen. "Es ist die Einfachheit in der Luft, die mich fasziniert", sagt der 36-Jährige. "Die Lautlosigkeit. Ich fühle mich wie ein Greifvogel. Die Alltagssorgen verflüchtigen sich. Durch die neue Perspektive merkt man erst, wie unwichtig viele Probleme tatsächlich sind." Der Sport wird zur Seelenmassage.
Bei den Gleitschirmfreunden Schweinfurt sehen das alle Mitglieder so. Gleichwohl ihr Vorsitzender Ralf Morgenroth schon mal siebeneinhalb Stunden in der Luft geblieben ist und dabei 170 Kilometer am Stück zurückgelegt hat. Aber nicht nur er hätte das Zeug dazu, sich bei einer deutschen Meisterschaft anzumelden. Auch wenn die nationale Elite auf bis zu elf Stunden und 300 Kilometer, die internationale Spitze auf bis zu 600 Kilometer kommt.
Greenpeace-Aktivist habe gegen alle Regeln verstoßen
Offizielle Meisterschaften gibt es als Präsenzveranstaltungen oder als "virtuellen" Wettbewerb, bei dem über eine längere Zeitspanne Werte in Echtzeit auf einen Server hochgeladen werden. Zum Beispiel die exakte Streckenführung eines sogenannten FAI-Dreiecks: ein Flug über zwei Wendepunkte zurück zum Startplatz.
Die 16 Männer und Frauen aber sehen sich als Genussflieger. Was für sie gar nicht geht: einen Motor als Unterstützung nutzen. So wie der Greenpeace-Aktivist beim EM-Spiel zwischen Deutschland und Frankreich in München, den ein technischer Defekt zu einer riskanten, Menschenleben gefährdenden Notlandung gezwungen hatte. Für Gessner "ein Idiot. Der hat gegen alle Regeln verstoßen. Das war eine Katastrophe, nicht auszudenken, was passieren hätte können, wenn der mit dem Propeller in die Menschen geflogen wäre."
Ganz abgesehen davon, dass dem seit 2004 fliegenden Gessner so ein Rucksackmotor "die ganze Faszination verhagelt. Ich erarbeite mir meine Höhe lieber redlich." Redlich: Das heißt ein bisschen Technik durch die Seilwinde, mit der die Kollegen einen aufsteigen lassen – sowie ganz viel Thermik und Geschick. Die Gleitschirmflieger schrauben sich, ähnlich wie die Segelflieger, dank des durch Aufwärmung des Erdbodens entstehenden Auftriebs auf gut und gerne 2000 Meter hoch – mit durchschnittlich zwei bis vier, in extremen Situationen mit bis zu acht Metern pro Sekunde. Auf den ersten 200 Metern hilft den Schweinfurtern, denen es an Bergen als Startrampe mangelt, eine mobile Seilwinde, montiert auf einem alten Renault Cabriolet.
"Ein E-Motor mit selbstentwickelter Steuerung", verrät Morgenroth voller Stolz. Das Teil ist Marke Eigenbau, entwickelt von Vereinsmitglied und Ingenieur Alfred Tareilus, per Digitaltechnik exakt auf das Gewicht des Piloten justierbar. Das rund 300 Meter lange Seil wird komplett ausgelegt, weshalb es zum Starten ein Gelände mit möglichst geraden Landwirtschaftswegen braucht.
Schweinfurter Gleitschirmfreunde sind seit 2008 unfallfrei
Wie das bei Schonungen, das eine Startgebiet der Gleitschirmfreunde, das andere liegt bei Euerbach – wo es heute gen Himmel geht. Das Auto, hinter einem Hügel außer Sichtweite, startet, der Flieger bekommt über Funk das Startsignal, läuft hinterher, stellt den Schirm in den Wind und hebt schon nach wenigen Metern ab . Wenn er annähernd über dem rund zwei Kilometer weit fahrenden Auto angelangt ist, klinkt er sich aus, und das Seil wird mit einem Minifallschirm, sanft sinkend, eingeholt.
Für den Grafenrheinfelder Morgenroth immer wieder faszinierend. Vergleiche zu den Spektakeln aus den Anfängen des Sports meidet er aber: "In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern waren das tollkühne Piloten. Heute ist das alles extrem sicher. Wir fliegen im Verein seit 2008 unfallfrei."
Grundlage dafür ist eine solide Ausbildung, die rund 1500 Euro kostet. Und gerne im Urlaub in den Alpen absolviert wird, wo auch leichter die in der Prüfung vorgeschriebenen Höhenmeter erreicht werden. "In den Bergen zu fliegen, ist ein ganz anderer Sport", so Morgenroth. Das Gros der rund 35 000 Gleitschirmflieger in Deutschland startet jedoch wie die Schweinfurter per Seilwinde.
Grundvoraussetzung, um alleine abheben zu dürfen, ist der A-Schein. Der B-Schein erlaubt das Überlandfliegen, die Krönung ist der Tandem-Schein: Er erlaubt dem Piloten, eine zweite Person, die mit ihm gekoppelt ist, mit in die Luft zu nehmen. Gessner hat diese Ausbildung und fliegt gerne mit Freundin Mona, der Tochter des Winden-Tüftlers Tareilus.
Warum miteinander reden beim Tandemflug wichtig ist
"Da ist es dann nicht ganz so lautlos. Macht aber nichts: Sich über die phänomenalen Naturerlebnisse, die man gerade erlebt, auszutauschen, ist herrlich." Und wenn er einen Gast mitnimmt, sei reden auch wichtig: "Ganz einfach um zu schauen, ob's ihm noch gut geht."
Gessner erinnert sich noch gut an die ersten "Gehversuche" an einem sanften Hügel: "Loszulaufen und die ersten Meter abzuheben, das vergisst du nie." Aus den ersten Hupfern wurde Leidenschaft. Der erste Schirm war noch ein gebrauchter, neue kosten nämlich zwischen 2800 und 4000 Euro.
Ein Tandemschirm, mit rund 42 Quadratmetern Fläche um einiges größer als die rund 26 Quadratmeter großen Soloschirme, sogar noch etwas mehr. Ob's ein paar Quadratmeter mehr oder weniger sein müssen, richtet sich dann nach dem Körpergewicht: "Wer arg zunimmt, kann aus seinem Schirm schon mal rauswachsen", so Morgenroth.
Vor allem aber wachsen die Piloten, sagt der in der Schweinfurter Großindustrie beschäftigte IT-Fachmann, recht schnell aus ihren anfänglichen Grenzen, die ihnen der Respekt vor der Höhe und der Naturgewalt des Windes setzen. Um die 30 Stundenkilometer schnell ist ein Hobbyflieger.
Ein ambitionierter reizt gerne mal, mittels einer mit den Füßen bedienbaren Beschleunigungshilfe, die den Anstellwinkel des Schirms verändert, die 40er-Marke aus – Sportschirme ermöglichen Spitzengeschwindigkeiten von 55 Kilometern in der Stunde. Da wird aus der Seelenmassage ein Hochleistungssport. Weshalb sportlichere Gleitschirmflieger stets Getränke und Müsliriegel im Gurtzeug haben.
Ein bisschen Streuung bei der Ankunft ist immer möglich
Wohin die Luftreise geht, bestimmt in erster Linie der Wind. Passen Thermik und Wetter, ist zwar ein Feierabend-Flug von Euerbach nach Bamberg drin, ein bisschen Streuung beim geplanten Ankunftsort sollte der Flieger jedoch einkalkulieren. "Und er sollte Wolken lesen können", so Morgenroth. "Beziehungsweise Wolkenstraßen, die sich entlang der steilen Flanke des Steigerwalds bilden. "Wer die erkennt und erwischt, bleibt easy oben."
Ein Gefühl, auf das die Gleitschirmfreunde Schweinfurt lange warten mussten: Wie alle Amateursportler zwang Corona sie in eine Pause. Gleitschirmfliegen ist, sobald die Winde für den Auftrieb sorgt, ein Vereinssport: Der Pilot, auch wenn er alleine fliegt, bedarf Mithilfe. Und Vereinssport war angesichts der hohen Inzidenzen in Schweinfurt und Umgebung eben länger als anderswo in Unterfranken nicht in Gruppen aus unterschiedlichen Haushalten möglich. Umso glücklicher sind Morgenroth und Gessner jetzt, und dem Himmel so nah.