Als Jonas Vingegaard am 23. Juli im Gelben Trikot die Pariser Prachtstraße Champs-Élysées entlangfuhr und nach drei Wochen voller Strapazen glücklich seiner Titelverteidigung entgegenrollte, da war auch Thorsten Wilhelms irgendwie mit dabei. Zwar nicht in einem der Team-Fahrzeuge, und schon gar nicht selbst auf einem der wertvollen Rennräder. Aber – in Form seiner Arbeit in den Monaten zuvor – gewissermaßen als Teil von Vingegaards Gefährt. Das kann bis zu 15.000 Euro kosten.
Wilhelms, 54, arbeitet seit zwölfeinhalb Jahren für die Firma SRAM, ein Hersteller von Fahrrad-Komponenten mit einem Sitz in Schweinfurt, der Hauptsitz ist in Chicago. Gemeinsam mit zwei Kollegen, einer aus England, der andere aus Belgien, betreut er Radrenn-Teams, darunter Jumbo-Visma, der Branchenprimus, bei dem neben Tour-Sieger Vingegaard mit Primož Roglič und Wout van Aert zwei weitere absolute Superstars ihres Sports unter Vertrag stehen.
"Meine Arbeit teilt sich in drei Bereiche auf: Ich kümmere mich um die Bestellung von Teilen und hole Feedback von Mechanikern sowie Rennfahrern ein, um das an unsere Ingenieure weiterzuleiten. Ich habe viel mit Prototypen zu tun, baue Räder auf und teste ein wenig. Und ich bin in Trainingslagern und bei Rennen vor Ort", erklärt Wilhelms im Gespräch mit dieser Redaktion.
Wilhelms kennt den Sport aus verschiedenen Perspektiven, war selbst aktiver Radprofi. 1993 hat er bei der Ernst-Sachs-Tour in Schweinfurt zwei von vier Etappen gewonnen; er ist mit Jan Ullrich zusammen bei Bianchi gefahren. "Ich treffe bei den Rennen immer noch Mechaniker, die schon meine Mechaniker waren", erzählt er.
Bei der Verarbeitung der Teile kommt es auf die Details an
Mit den Mechanikern hat der 54-Jährige, der aus Hannover stammt und inzwischen seit zehn Jahren in Schweinfurt lebt, in Form von Coachings viel zu tun. "Es ist sehr wichtig, dass sie die Teile genauso verarbeiten, wie wir uns das vorstellen", sagt Wilhelms. Er spricht beispielsweise von kabellosen Elektronik-Gangschaltungen, die perfekt montiert sein müssen. "Das sind alles Supermechaniker, die teilweise schon seit 30 Jahren bei der Tour dabei sind." Aber es kommt eben auf die Details an, die bei jedem Hersteller unterschiedlich sind. "Das ist so, als würden sie sich bei Ikea etwas bestellen und nicht in die Gebrauchsanleitung schauen", sagt Wilhelms.
Der Entwicklungsprozess beginnt schon früh. Bereits jetzt sei SRAM mit der Tour de France 2024 beschäftigt. Ganz wichtig seien jedes Jahr die Klassiker in Belgien im Frühjahr. "Da ist viel Kopfsteinpflaster, da wird das Material richtig gefordert", betont Wilhelms. Generell stellt SRAM bis auf Sättel und Rahmen alle Komponenten an den Rädern zur Verfügung.
Wilhelms und seine Kollegen seien immer schon zwei Tage vor dem Rennen vor Ort, sprechen mit den Mechanikern, schauen welche Hürden es gibt und ob sie helfen können. Auch von den Rennfahrern gibt es dann teilweise noch Feedback. "Zwei Tage vorher ist alles noch ein bisschen gelöster, einen Tag vorher ist alles angespannter, und wenn das Rennen läuft, können wir sowieso nichts mehr machen", sagt Wilhelms.
Mitarbeiter von SRAM sind bei großen Rundfahrten bereits eine Woche vor Start vor Ort
Ähnlich sieht es bei den großen Rundfahrten aus. Da seien die Teams bereits eine Woche vor Start da, selbiges gelte für Wilhelms und seine Kollegen. Nach dem Start bleiben sie dann noch drei Tage vor Ort, weil es erfahrungsgemäß viele Stürze gibt. Dann geht es erst einmal nach Hause, an den Ruhetagen geht es zurück zu den Rennen. "Das ist der einzige Tag, an dem die Mechaniker Zeit haben, mit uns zu sprechen", erklärt Wilhelms.
Letztlich geht es nur um Nuancen. "Am Ende müssen die Jungs zum Glück noch treten", sagt Wilhelms. Aber genau diese Details können Rennen entscheiden. "Es ist das eine Prozent, das du verbessern kannst", betont er. Inzwischen sei die Leistungsdichte so groß, "dass du jeden Stein umdrehen musst". Zwar gebe es immer noch Teams, die nicht in den Windkanal gehen und sich lieber auf andere Dinge fokussieren, "aber damit kannst du nicht mehr bestehen. Die Teams, die mehr Wert darauf legen und mit uns zusammenarbeiten, haben einen Vorteil."
Als konkretes Beispiel nennt Wilhelms Kassettengrößen am Hinterrad. Eine Kassette besteht aus zwölf Ritzeln. Was SRAM exklusiv anbietet, ist ein Zehner-Ritzel, also eines mit zehn Zähnen, auf denen die Kette läuft. "Durch das Zehner-Ritzel können die Fahrer bergab eine größere Übersetzung fahren, also einen größeren Gang, und treten, während die anderen dort keinen Widerstand mehr spüren", erklärt Wilhelms. Ergo sind die Jumbo-Visma-Fahrer hier im Vorteil, weil sie schneller fahren können.
Es ist übrigens nicht gesagt, dass der beste Rennfahrer auch das beste Feedback gibt. "Vingegaard ist ein sehr ruhiger Mensch, auch Roglič ist im Umgang ein sehr bequemer und fährt nicht aus der Haut", betont Wilhelms. Van Art sei "richtig gut", einer "der besten Feedback-Geber". Seit dem 26. August kämpfen die beiden Erstgenannten um den Sieg bei der Vuelta a España. Jumbo-Visma will den Hattrick, nachdem Vingegaard die Tour gewonnen hat und Roglič beim Giro ganz oben stand. Und Wilhelms? Der hat erstmal Urlaub, jetzt wo die Tour und die Weltmeisterschaften gelaufen sind.