Eigentlich wollte die Nordheimerin Svenja Betz in diesem Jahr den Fokus noch stärker auf den Radrennsport legen. Das Ziel: Dem Traum vom Profiradsport ein Stück näher kommen. Doch bevor die Saison im März so richtig losging, war sie auch schon wieder unterbrochen. Die Corona-Pandemie führte dazu, dass weltweit alle Radrennen bis August abgesagt wurden. Somit blieb der 24-Jährigen nur das Training vor der eigenen Haustür in der Rhön. Hier fand sie zwar beste Bedingungen vor, was ihr aber fehlte, war der Wettkampf. Dies änderte sich vor einigen Wochen. Denn der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) hat eine Serie von fünf Bundesliga-Rennen bei der virtuellen Plattform Zwift eingetragen. Und hierfür muss Betz nicht einmal die eigenen vier Wände verlassen.
In der Gesamtwertung knapp am Podium vorbei
„Das ist auf jeden Fall eine coole Idee für die Corona-Zeit, auch wenn es die echten Rennen natürlich nicht ersetzt“, sagt Betz. Dennoch hat sie nicht lange gezögert, als sie von den virtuellen Bundesliga-Rennen gehört hat. Für ihr Team RSG Gießen Biehler ging sie an den letzten fünf Samstagen im elterlichen Wohnhaus in Nordheim an den Start und beendete die Rennserie auf dem sechsten Gesamtrang (von 79 Fahrerinnen). Ihr bestes Ergebnis erzielte die Nordheimerin beim dritten Rennen, als sie als Dritte auf das Podium fuhr. In der Team-Gesamtwertung reichte es für die Nordheimerin und ihre Kolleginnen sogar zum Sieg.
Um an den Rennen teilnehmen zu können, hat Betz sich ihren Rollentrainer (Smarttrainer) im eigenen Zimmer eingerichtet. Ihre Leistungsdaten werden mittels der Software Zwift und einem Herzfrequenzmesser live übermittelt, sodass sie sich mit ihrer Konkurrenz virtuell messen kann. Auch die Angabe des eigenen Gewichts ist eine Grundvoraussetzung, da sich daraus der Widerstand auf der Rolle ergibt. Während sie auf dem Rad sitzt und in die Pedalen tritt, sieht sie auf einem vor ihr platziertem Bildschirm sich und ihre Konkurrentinnen als virtuelle Figuren in Echtzeit fahren. Ein Chat mit den Teamkolleginnen wäre zwar technisch auch möglich, „doch bei der hohen Belastung kommt man dazu definitiv nicht.“
Auf Unterstützung muss die 24-Jährige dennoch nicht verzichten. Pünktlich zu den Rennen am Samstagnachmittag sitzt nämlich die ganze Familie in Svenjas Zimmer und feuert sie an. „Dann wird auch der große TV-Bildschirm von unten nach oben gebracht, sodass alle das Rennen gut verfolgen können. Außerdem reicht meine Familie mir zwischendurch auch die Trinkflasche oder einen Powerriegel. Es ist also fast ein bisschen so wie bei einem echten Rennen, wenn das Teamfahrzeug hinter einem fährt“, sagt Betz.
Ventilator soll den fehlenden Fahrtwind etwas kompensieren
Was die virtuellen von den realen Bundesliga-Rennen unterscheidet, ist die Distanz und die Renndauer. Zwischen 35 und 60 Kilometer sind die fünf Rennen lang, sodass die Fahrerinnen nach bereits gut einer Stunde meist im Ziel sind. Dennoch sind sie nach dieser Zeit mindestens genauso erschöpft wie nach den Rennen im Freien. „Die Belastung ist schon sehr hoch, denn es gibt keine Phasen, in denen man nicht in die Pedale treten muss“, sagt Betz. Hinzu kommt die Wärme im Haus, die die Sportlerinnen ohne den sonst vorhandenen Fahrtwind ganz schön ins Schwitzen bringt. Daher gehört ein unter dem Rad ausgelegtes Handtuch sowie ein Ventilator („Er ist Gold wert“, so Betz) quasi zur Grundausstattung dazu.
Zudem haben es auch die Streckenprofile in sich. Im dritten Rennen ging es beispielsweise ins computeranimierte Hochgebirge. Am Ende der Strecke war die gewaltige Auffahrt zur Alpe du Zwift zu bezwingen. Diese ist exakt dem legendären Tour-de-France-Anstieg nach Alpe d?Huez nachempfunden. Auf 12,2 Kilometern geht es bei 8,5 Prozent Durchschnittssteigung insgesamt 1036 Höhenmeter bergauf – inklusive der 21 Kehren des Originals in den französischen Alpen. „Am rechten oberen Bildschirmrand wird immer die aktuelle Steigung angezeigt. Umso steiler es bergauf geht, desto größer ist der Widerstand der Rolle“, beschreibt Betz die technischen Details.
Auch der Windschatten wird im virtuellen Rennen berücksichtigt
Am linken Bildschirmrand kann sie ihre aktuelle Watt-Zahl sehen. Wie viel Watt eine Fahrerin pro Kilogramm Körpergewicht auf das Pedal treten kann, ist letztlich der maßgebliche Parameter für die Geschwindigkeit im Rennen. Zudem kann das Programm auch den Windschatten mit einberechnen. „Man merkt es schon deutlich, wenn man vor dem Feld im Wind fährt. Dann leistet die Rolle deutlich mehr Widerstand“, sagt Betz. Daher versuche man natürlich teamtaktisch zu fahren. Gleichwohl gibt Betz zu, dass die Taktik im Vergleich zum realen Rennen eine deutlich geringere Rolle spielt. „Es ist dennoch schön, auf diese Art und Weise zusammen im Team zu fahren. Am Freitag vor dem Rennen bereiten wir uns jeweils bei einem digitalen Meeting auf die Rennen vor und auch im Nachgang wird zusammen analysiert. Das stärkt auf jeden Fall den Zusammenhalt.“
Ein taktisches Mittel, das es so bei den realen Rennen nicht gibt, sind die sogenannten „Power-Ups“. Sie erinnern fast ein wenig an das Konsolenspiel Mario Kart. Nur gibt es bei Zwift keine Bananenschalen, auf denen die Konkurrenten ausrutschen könnten, sondern eine Feder oder einen areodynamischen Helm. Während die Feder die Sportlerinnen für eine gewisse Zeit leichter machen und so der Widerstand der Rolle reduziert wird, bekommt man beim Helm ein bisschen Geschwindigkeit hinzu. „Das ist eigentlich eine ganz witzige Sache, aber bei einem Rennen hat es meiner Meinung nach nichts verloren“, sagt Betz. Vor allem, da die Zuteilung völlig willkürlich erfolgt. Da könne es schon einmal passieren, dass eine Fahrerin zwei Power-Ups bekommt und eine andere komplett leer ausgeht.
Live-Übertragung im Internet eine Chance für den Frauenradsport
Positiv findet Betz hingegen, dass die Männer die gleichen Strecken wie die Frauen fahren und dass die Rennen live im Internet übertragen werden. „Im kommentierten Livestream bekommen wir annähernd die gleiche Aufmerksamkeit wie die Männer. Das könnte für die Zukunft sogar eine Chance für den Frauenradsport in Deutschland sein.“ An den virtuellen Rennen hat sie nach anfänglicher Skepsis mittlerweile sogar Gefallen gefunden. „Im Grunde ist es wie bei jedem Computerspiel. Wenn man viel übt, wird man mit dem Spiel vertrauter und mit der Zeit auch besser. Das Radfahren im Freien können die virtuellen Rennen und Trainingseinheiten aber nicht ersetzen.“
Daher hat sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass in in diesem Jahr vielleicht doch noch das eine oder andere reale Radrennen stattfinden kann. Bis dahin nutzt sie die Zeit und trainiert gemeinsam mit ihrer Schwester Maja viel in der Rhön. „Und wenn man doch mal wenig Zeit hat oder das Wetter schlecht ist, dann ist das virtuelle Radfahren auf dem Smarttrainer eine schöne Alternative.“