
Letizia Paoli promovierte in ihrer Heimat Italien mit einer Arbeit über die Mafia. Ab 1997 arbeitete und forschte sie in Deutschland, ehe sie 2006 zur Professorin für Allgemeine Kriminologie an der Universität im belgischen Löwen berufen wurde. Sieben Jahre lang untersuchte Letizia Paoli die westdeutschen Dopingpraktiken: Von 2009 bis 2016 war sie Vorsitzende der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin an der Uni Freiburg, um die Doping-Verflechtungen der Hochschule zu ermitteln. Im Buch "Doping in Deutschland" räumen sie und ihre Mitstreiter, darunter Fritz Sörgel und Gerhard Treutlein, mit dem Märchen auf, früher sei nur in der DDR gedopt worden.
Letizia Paoli: Nein, das war auch mein Eindruck. Mir wurde am Anfang gesagt, du wirst jetzt Vorsitzende der Kommission und das ist nur eine Arbeit von ein paar Monaten. Ich bin da ganz blauäugig herangegangen und dachte, dass ich im Auftrag und mit der Unterstützung der Universität Freiburg arbeiten würde. Im Laufe der Zeit musste ich realisieren, dass das nicht der Fall war. Deswegen habe ich viel Zeit in Verhandlungen mit der Universität verloren. Viele Dinge, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, zum Beispiel Zeitzeugen zu interviewen oder die Machenschaften von Prof. Armin Klümper zu untersuchen, waren erst einmal nicht möglich. Man musste so viel Zeit in unnötige Kämpfe investieren, dass für die Untersuchung selbst weniger Zeit blieb. Deswegen hat das letztendlich alles so lange gedauert.
Paoli: Nein, sicher nicht. Das Thema ist zwar superinteressant und es war wichtig, dass es eine Untersuchung gab. Aber ganz offensichtlich hatte die Universität Freiburg keinen großen Aufklärungswillen.
Paoli: Weil die Sportfunktionäre und -Verbände ihren Ruf verteidigen wollen. Sie wollen keine Nestbeschmutzer oder kritischen Stimmen. In Deutschland hatte man nach der Wiedervereinigung die Neigung, die ganze Schuld auf die DDR zu schieben. Die waren es, die Staatsdoping betrieben haben. Im Westen dagegen war im Narrativ der westdeutschen Sportfunktionäre alles picobello.
Paoli: Wir haben viele Beweise geliefert über die Rolle von Klümper im westdeutschen Dopingsystem. Es gab mindestens ein nationales Dopingsystem, das für den Radsport. Dass Klümper viele schmutzige Sachen gemacht hat, war den Experten schon vorher klar. Aber wir haben auch neues Licht geworfen auf die Rolle von Prof. Joseph Keul, dem Leiter der Freiburger Abteilung für Sportmedizin von 1974 bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Keul war für viele Jahre der einflussreichste Sportmediziner Deutschlands. Er hat mit seinem Tun und Nicht-Tun Doping in Deutschland für viele Jahrzehnte möglich gemacht. Er war sehr vorsichtig, wenn es darum ging, selbst zur Spritze zu greifen. Aber er hat viele Dopingpraktiken, auch von seinen Mitarbeitern, geduldet. Mit seinen Beiträgen in der Presse hat er immer wieder versucht, neue und auch bekannte Mittel als nicht so gefährlich darzustellen. Er war für zwei Jahrzehnte auch Chefarzt der Olympiamannschaft. Er hat sicher gesehen, was mit vielen Athletinnen passiert ist und hat nie etwas unternommen, Anabolika-Doping bei Frauen zu stoppen.
Paoli: Ja, das stimmt. Mit Ausnahme des Radsports gab es in Westdeutschland zwar kein richtiges nationales System. Es war nicht top down organisiert wie in Ostdeutschland. Aber Doping war trotzdem weit verbreitet, viele Top-Athleten haben gedopt. In Westdeutschland gab es viel Duldung dafür.
Paoli: Ich glaube, dass Athleten, Sportverbände und auch Universitäten sehr viel vorsichtiger geworden sind. Ich würde behaupten, dass es momentan kaum Doping in universitären Einrichtungen gibt. Aber ich glaube auch, dass weiterhin gedopt wird. Die Leute gehen nur eben zu Gurus oder Ärzten, die außerhalb von öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Wir brauchen dahingehend eine Veränderung der Mentalität, dass der Elitesport zu 90 Prozent – mit Ausnahme des Profi-Fußballs – mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Meiner Meinung nach sollten viel strengere Bedingungen an diese schönen Schecks geknüpft werden. Weil der Sport auch eine Vorbild- und Erziehungsfunktion hat. Und wenn man so viele öffentliche Mittel bekommt, muss man auch Rechenschaft darüber ablegen. Das passiert meiner Meinung nach nicht, ist aber wichtiger, als einzelne Doper zu bekämpfen.
Paoli: Viele Zuschauer wollen einfach Spaß haben und verstehen den Spitzensport als einen Moment der Entspannung und des Abschaltens. Dazu kommt bei internationalen Wettbewerben ein Gefühl von Nationalstolz und Zugehörigkeit. Aber man sollte viel mehr auf die Folgen des Sports für die betroffenen Athleten achten. Die Stars bekommen die Aufmerksamkeit, aber dahinter gibt es ungleich mehr Sportler, die es versucht, aber nicht geschafft haben. Viele tragen psychische und physische Schäden davon. Deswegen müsste man den Sportverbänden viel strengere Bedingungen geben, an die das Geld geknüpft ist. Der allergrößte Teil davon geht in den Elitesport. Dabei hat der Breitensport eine viel positivere Auswirkung auf unsere Gesellschaft. Dorthin müsste viel mehr Geld aus der öffentlichen Hand fließen.