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Die Doping-Akte VF-1220/13/72
Neue Aktenfunde aus den 70er Jahre beweisen: Die Bundesrepublik Deutschland finanzierte aus Steuergeldern am sportmedizinischen Institut der Universität Freiburg Dopingforschung mit Anabolika, Insulin und Wachstumshormonen.
Wie in einer Apotheke: Herbert Reindell (links) von der Universität Freiburg war 1964 Arzt der deutschen Olympia-Mannschaft. Unser Bild zeigt ihn zusammen mit Dr. Woldemar Gerschler im Behandlungszimmer in Tokio.
Foto: Action Press | Wie in einer Apotheke: Herbert Reindell (links) von der Universität Freiburg war 1964 Arzt der deutschen Olympia-Mannschaft. Unser Bild zeigt ihn zusammen mit Dr. Woldemar Gerschler im Behandlungszimmer in Tokio.
Von unserem Redaktionsmitglied Achim Muth
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:05 Uhr

Nach dem Zweiten Weltkrieg plante Deutschland 1972 die Rückkehr auf die Bühne der großen Weltgemeinschaft: Die Olympischen Sommerspiele in München sollten eine neue, die gute Seite Deutschlands zeigen. Erstmals stellte sich die Demokratie ins Schaufenster, die Bundesrepublik Deutschland wollte dem Sport der Welt ein guter Gastgeber sein – und offensichtlich auch ihre Leistungsfähigkeit auf dem Feld der Athletik in besonderem Maße demonstrieren. Nun erst entdeckte Dokumente nähren den Verdacht, dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Exklusiv liegen dieser Zeitung Akten vor, die die frühe Existenz des sich in der Bundesrepublik Deutschland entwickelnden systemischen Dopings just zu jener Zeit der Olympischen Spiele belegen. Es geht um die Anwendung von Anabolika sowie die Verabreichung von Insulin und Wachstumshormonen – alles mit Wissen des Staates und finanziert aus Steuergeldern.

Tief verstrickt darin waren das unter staatlicher Finanzierung 1970 gegründete Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp), das damals seinen Sitz in Löwenich bei Köln hatte, heute in Bonn angesiedelt und nach wie vor dem Bundesinnenministerium (BMI) unterstellt ist, und alte Bekannte: Die Professoren Herbert Reindell und Joseph Keul der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg – ausgerechnet jenem Institut, über das die „Zeit“ erst Anfang 2013 schrieb, es gelte „als westdeutsches Abziehbild des DDR-Dopingstaatsplans“. Schlagzeilen machten vor allem die enge Verbindung der Uni Freiburg zum dopingverseuchten Radrennstall des Team Telekom um Jan Ullrich in den Jahren um den Jahrtausendwechsel. Die Telekom-Mannschaftsärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid kamen vom Freiburger Institut.

Bei der nun entdeckten Akte handelt es sich nach Überzeugung von Wissenschaftlern mit hoher Sicherheit um das erste Dokument zur bundesfinanzierten Dopingforschung in Deutschland und es zeigt, dass in Freiburg bereits Anfang der 70er Jahre die Ethik vernachlässigt worden ist. Dies dürfte hierzulande die Diskussion um die Ernsthaftigkeit der Dopingbekämpfung von BMI und DOSB neu entflammen lassen.

Darüber hinaus werfen die frischen Erkenntnisse abermals die Frage auf, wie glaubhaft die Bemühungen des BISp um Aufklärung wirklich waren, als dieses 2008 zusammen mit dem DOSB das Forschungsprojekt „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“ auf den Weg brachte. Nachdem die Geschichte des Zwangsdopings in der DDR – vor allem auch durch Medien – gut aufgearbeitet ist, sollte auch ein wenig Licht in den dunklen Winkel Westdeutschlands sowie des vereinigten Deutschlands geworfen werden.

Aber war den Auftraggebern am Ende das Licht zu hell? Denn tatsächlich erbrachten die etwa an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführten Projektteile unter der Leitung von Prof. Dr. Giselher Spitzer ein gänzlich unerwartetes Bild vom systemischen Doping sowie der Vielzahl der verwendeten Substanzen, der staatlichen Finanzierung und eine korrekturbedürftige Information des Bundestages 1991 über Testosteron-Forschungen im staatlichen Auftrag. Nachdem die Wissenschaftler dies alles für die Jahre 1950 bis zur Wendezeit zu Tage gefördert hatten, ließ das BISp im Frühjahr 2012 plötzlich die Finanzierung auslaufen. Und dies gerade zu dem Zeitpunkt als es an die Aufarbeitung jener Zeit ging, die aus heutiger Sicht besonders brisant ist, weil möglicherweise belastete Personen noch immer im Sport in Amt und Würden sein könnten: Die Zeit von 1990 bis zur Gegenwart.

Die Projektgruppe der Humboldt-Universität beklagte zudem öffentlich, aber ohne Erfolg die Verhinderung von Publikationsmöglichkeiten ihrer brisanten Forschungsergebnisse, die auch Einfluss auf eine mögliche Dopinggesetzgebung, wie sie die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) etwa seit Jahren fordert, haben dürfte. Brisant: Bis heute hat das BISp als Auftragsgeber den ihm längst vorliegenden Abschlussbericht des Projektes „Doping in Deutschland“ nicht veröffentlicht.

Die jetzt exklusiv ausgewerteten Akten könnten eine neue Dynamik in die Aufarbeitung von Doping in Westdeutschland bringen. Denn: „Aus Freiburg war häufig Ablehnung von Dopingpraktiken zu hören“, sagt Giselher Spitzer, „die Wirklichkeit war anders als die öffentlichen Bekundungen“. Für den Wissenschaftler aus Berlin sind die Akten ein Beleg für den Einstieg in die BISp-finanzierte und kontrolliert angewandte Dopingforschung, „sie haben deshalb herausragende Bedeutung für die Geschichtsschreibung“. Geraume Zeit schienen alle relevanten Dokumente verschwunden oder vernichtet worden zu sein, möglicherweise sogar im Vorfeld im Zusammenhang mit der Ausschreibung des staatlichen Forschungsauftrags.

Dieser Zeitung jedoch lagen Aktennummern vor, hinter denen sich Beweise für deutsche Dopingforschung vermuten ließen. Die Spur führte ins Bundesarchiv nach Koblenz. Dort, hoch über dem Rhein, liegt das gesammelte Deutschland in einem Zweckbau aus den 80er Jahren, die Magazinfläche beträgt 15 000 m². In unzähligen Akten schlummert hier das Gedächtnis der Nation. An einem Tag im Mai 2013 standen die beantragten Ordner zur Einsicht bereit. Oft drehten sich die Briefwechsel zwischen Professor Joseph Keul aus Freiburg und dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft um kleinste Abrechnungsdetails. Da wurde einmal gefragt, ob denn die Briefmarken tatsächlich für den Forschungsauftrag verwendet wurden, ein anderes Mal ging es um eine Einladung zum Abendessen in St. Moritz. Die Akte mit der Nummer „VF 1220/13/72“ war allerdings von anderem Kaliber, hier handelt es sich nach Kenntnis von Giselher Spitzer, um eine der ersten beiden Signaturen, die im BISp überhaupt zu Anabolika verzeichnet wurden.

Aufmerksamkeit erregt vor allem jener Vorgang, der mit einem Brief vom 12. Oktober 1971 an das BISp mit folgendem Betreff beginnt: „Fortführung und Ausweitung der Arbeiten des Forschungs- und Leistungszentrums am Lehrstuhl für Kreislaufforschung und Leistungsmedizin der Universität Freiburg im Breisgau für die Zeit vom 1.1.1972 bis zum 31.12.1972.“ Unterschrieben ist der zehnseitige Antrag von den beiden damals führenden Sportmedizinern Deutschlands, Prof. Herbert Reindell (gest. 1990 in Freiburg) sowie Prof. Joseph Keul (gest. 2000 in Freiburg). Formlos beantragten sie darin zunächst eine jährliche Leistung in Höhe von 218 160 DM. Der Antrag wurde vom BISp geprüft, um einige Posten wie etwa einen Forschungsaufenthalt in Kenia gekürzt – und bereits am 15. Dezember 1971 geht in Freiburg das Antwortschreiben ein: „ . . . ist für Sie eine Fördersumme von 139 200 DM für das Jahr 1972 vorgesehen.“ Bundesinnenminister zu der damaligen Zeit war FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher, Direktor des BISp war Hermann Rieder. Unterschrieben ist die Genehmigung vom damaligen BISp-Referenten für Biologie und Medizin, J. Kock.

Das klingt zunächst harmlos, und auch Punkt 5 hört sich nach seriöser Sportwissenschaft an: „Untersuchungen über die verschiedenen Formen des Krafttrainings auf Kraftentwicklung, Schnelligkeit und Koordination.“ Sprengkraft entfaltet erst der Unterpunkt d.): Dort heißt es wörtlich: „Wird durch Anabolika die Leistungsfähigkeit bei Kraftübungen gefördert und in welchem Maße besteht eine Gefährdung durch Einnahme von Anabolika (Fortführung bereits in diesem Jahr begonnener Versuche).“

Die Unterlagen beweisen, dass es Anabolika-Forschungen in Verantwortung der beiden Freiburger Professoren Reindell und Keul schon zum Zeitpunkt der Antragstellung beim BISp gegeben hat. Als Ziel wird formuliert, durch Anabolika die Leistungsfähigkeit bei Kraftübungen zu fördern. Anabole Steroide wie Testosteron oder Nandrolon führen zu einer Vermehrung der Muskelmasse: Nichts anderes als Doping. Die Formulierungen im Antrag können nicht als Kampf gegen Doping missverstanden werden, sagt Giselher Spitzer. Für ihn ist das vielmehr „sportwissenschaftliche Zweckforschung mit Anabolika“ und wahrscheinlich das „erste Beispiel in Westdeutschland“.

Auch wenn Anabolika vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) erst 1974 auf die Verbotsliste gesetzt wurde, so war die Wirkung der anabolen Stoffe längst bekannt. „Wollten die Freiburger vor 40 Jahren etwa die Risiken der Anabolika zum Schutz der Sportler erforschen?“, fragt Spitzer und gibt die Antwort selbst: „Eine solche Forschung wäre aus ethischer Sicht verwerflich, zumal der eigene Verband, die Interessenvertretung aller deutschen Sportärzte, bereits 1952 auch die Anabolika gebannt hatte.“ Nach der Affäre Martin Brustmann, der als Arzt der Olympia-Rudermannschaft den Sportlern das Testosteron enthaltende Mittel Testoviron verabreicht hatte und 1952 suspendiert worden war, definierten die deutschen Sportärzte in einer gemeinsamen Erklärung Doping so: Die Einnahme jedes Medikaments, ob wirksam oder nicht, das zur Leistungssteigerung vor Wettkämpfen dient. Eingeschlossen wurden sämtliche Hormone, „in erster Linie Geschlechtshormone wie die Anabolika“.

Verantwortliche Funktionäre, Wissenschaftler und Mediziner in den Sportverbänden waren Ende der 60-er Jahre also bereits genauestens über die Entwicklungen im Anti-Doping-Kampf informiert. Bereits 1970 beschloss der Kongress des Welt-Leichtathletik-Verbandes IAAF in Stockholm die Ächtung der anabolen Steroide, ein Jahr später folgte der Deutsche Leichtathletik-Verband. Die Heidelberger Experten Andreas Singler und Andreas Treutlein haben 2010 herausgearbeitet, dass das DLV-Organ „Leichtathletik“ bereits am 2. März 1971 eine Dopingliste veröffentlichte, auf der erstmals Anabolika als verbotene Präparate genannt wurden – ein halbes Jahr vor dem Antrag aus Freiburg. „Gerade Professor Reindell hätte für die Spiele in München 1972 Anabolika in die Verbotsliste aufnehmen können, da er zur zuständigen IOC-Ärztekommission gehörte“, sagt Wissenschaftler Giselher Spitzer. Dass Reindell dies nicht getan habe, wundert Spitzer nun nicht mehr: „Reindells Antrag an das BISp sollte schließlich die Spiele in München vorbereiten – mit Anabolika und Insulin...“

Bei den Recherchen in Koblenz wurde ein weiterer Antrag an das BISp aus dem Folgejahr, vom 12. Oktober 1972 gefunden. Auch dieser Schriftsatz, erneut unterschrieben von Reindell und Keul, enthält Sprengkraft, beweist er doch, dass 1971 die Anabolika-Versuche nicht nur beantragt, sondern auch durchgeführt wurden: „Die Versuche über die Einwirkung von Anabolika auf die Leistungsfähigkeit bei Kraftsportlern konnte im Kurzzeitversuch (über 3 Monate) abgeschlossen werden.“ Mehr noch: Es wird deutlich, dass Dopingversuche auch mit deutschen Topathleten geplant waren. Wörtlich heißt es im Antrag: „Es werden derzeit noch langfristige Untersuchungen durchgeführt, inwieweit durch Anabolika eine Gefährdung gegeben ist. Zusätzlich soll durch Untersuchungen an maximal trainierten Gewichthebern der deutschen Spitzenklasse geprüft werden, ob dabei eine Förderung der Kraft noch möglich ist.“ Und das alles in der Bundesrepublik Deutschland, nicht der DDR, von der das staatliche Zwangsdoping lange dokumentiert ist.

Unverblümt gehen die Sportmediziner aus Freiburg im ersten Punkt ihres neuen Antrags auch auf eine weitere, fragwürdige Versuchsreihe ein: Um die Beziehung zwischen starken körperlichen Belastungen und der Erholungsfähigkeit des menschlichen Organismus zu erforschen, griffen Herbert Reindell und Joseph Keul offenbar auf die Vergabe von Insulin und Wachstumshormonen zurück: „Zugleich ist auch die Frage zu klären, ob durch geringe Gaben von Insulin bzw. in Zusammenspiel mit somatropen Hormonen (Wachstumshormone, Anm. d. Red) eine verstärkte Glykogenanreicherung in der Muskulatur erreicht und dadurch eine höhere Dauerleistungsfähigkeit erzielt werden kann. Es ist vorgesehen 15 Versuchspersonen während einer Dauerbelastung von 2 Stunden im Hinblick auf die obige Fragestellung zu untersuchen.“ Für Giselher Spitzer wird durch dieses Schriftstück „erstmals überhaupt rekonstruierbar, dass es staatlich finanzierte Dopingpraktiken mit Einsatz von Insulin beim gesunden Menschen gegeben hat“. Auch wenn Insulin erst Jahre später auf die Dopingliste kam, für den Berliner verstößt die Vergabe an gesunde Menschen „gegen Ethik, Moral und Strafrecht“.

In Bayreuth sitzt Professor Walter Schmidt in seinem Büro im ersten Stock des sportwissenschaftlichen Instituts der Universität. Einer der Schwerpunkte seiner Lehre ist der Anti-Doping-Kampf, Schmidt arbeitet regelmäßig für die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Sein Urteil nach dem Studium der brisanten Akten: „Diese Dokumente sprechen für sich. Zum heutigen Zeitpunkt wären diese Untersuchungen ganz klare Dopingforschung.“ Besonders überrascht ist der Wissenschaftler über die Versuche mit Wachstumshormonen (HGH) bereits Anfang der 70er Jahre: „Es ist sehr interessant, dass die Antragsteller beim HGH schon dermaßen weit in der Erforschung waren.“ Für ihn ist das Vorgehen ethisch sehr fragwürdig, schließlich gab es HGH damals nur in Form von sehr seltenen Medikamenten, die Hormone mussten aus Leichen entnommen werden: „Wenn man sie für Versuche zur Leistungssteigerung bei Sportlern verwendet hat, wurden sie somit Kleinwüchsigen vorenthalten, die die Medikamente vielleicht dringend gebraucht hätten.“

Professor Bruno Allolio ist Leiter der Endokrinologie der Inneren Medizin an der Universitätsklinik in Würzburg, auch er hält die Dokumente aus den 70er Jahren für ein spannendes Thema. „Ich habe nie geglaubt“, sagt er und meint Doping, „dass sich die Westdeutschen da aus allem herausgehalten haben“. Für ihn sind die Passagen mit dem Hinweis auf Versuche mit Insulin sehr eindeutig, „auch wenn man bedenken muss, dass Anfang der 70er Jahre die Gesellschaft ein anderes Verständnis von Doping hatte als es sich heute mit all dem Wissen über Hintergründe und dem Aufdecken vieler Skandale darstellt“. Dennoch: Das Hantieren mit Insulin zur Leistungssteigerung hält Allolio für ein Spiel mit dem Feuer: „Zu diesem Zwecke Insulin zu spritzen, auf die Idee käme ich nicht. Das wäre definitiv viel zu gefährlich.“ Insulin, sagt der Würzburger Mediziner, habe durchaus einen gewissen anabolen Effekt, „und der Glykogengehalt der Muskulatur wird erhöht und dadurch die Ausdauerleistung verbessert“. Dosis und Timing seien dabei aber extrem wichtig. Es sei ein schmaler Grat, auf dem Ärzte und Sportler wandelten, „das kann auch tödlich enden“. Diesem Risiko aber, so belegen es die im Bundesarchiv gefundenen Dokumente, wollten Reindell und Keul mit Genehmigung des Bundesinstituts 15 Versuchspersonen aussetzen. „Ein Hormon einem gesunden Menschen zu geben, ist erst mal falsch“, sagt der Würzburger. In der Medizin würde es zwar auch Versuche mit geringen Dosen Insulin bei gesunden Menschen geben, doch diene das zur Erforschung beispielsweise von Stress. „Versuche im Kontext von Doping lehne ich ab.“ Allerdings hält Bruno Allolio seinen Beobachtungen nach Sportler für extrem anfällig für die Versuchung, alle Möglichkeiten zur Leistungssteigerung zu nutzen: „Als Laie habe ich den Eindruck, dass man beispielsweise bei der Tour de France vorne nur mitfahren kann, wenn man gedopt ist.“ Zwischen Sündern und Aufklärern, sprich zwischen Dopern und Dopingfahndern, „gibt es einen ständigen Wettkampf“. Human-Insulin etwa sei heute sehr leicht zu besorgen, aber sehr schwer nachzuweisen. „Es ist noch keine wirksame Kontrolle gefunden“, sagt der Endokrinologe. Die Gefahr, mit Forschung auf dem Gebiet des Muskelaufbaus in die Doping-Ecke gerückt zu werden, lässt viele Wissenschaftler zurückschrecken, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, sagt Allolio. Dabei sei dieses Feld abseits des Dopings durchaus wert beackert zu werden: „Die Lebensqualität eines 80-jährigen Menschen hängt wesentlich von seiner Muskelleistung ab. Es würde Sinn machen, gute Verfahren zu haben, um den Muskelaufbau im Alter zu fördern, aber die pharmazeutische Hilfe ist auf diesem Gebiet unterentwickelt“, so der Mediziner.

Wäre die Legalisierung von Dopingmitteln ein Weg aus dem Dilemma? Bruno Allolio hat eine klare Meinung dazu, es ist die gleiche wie beim Thema Rauschgift: „Es freizugeben ist keine gute Idee. Die Gesundheitsprobleme wären durch eine Legalisierung wesentlich höher.“ Und: Selbst wenn die Mittel freigegeben wären: „Die Leute werden immer ihren Vorteil suchen. Das ist etwas deprimierend, aber darum geht es beim Doping“, sagt Allolio. „Wir werden mit dem Wettkampf der Systeme leben müssen.“

In ihrer Gesamtheit betrachtet sind die im Bundesarchiv gefundenen Akten von sporthistorischem Wert: Es gab in der Vergangenheit zahlreiche bestätigte Dopingvergehen auch im Westen Deutschlands vor der Vereinigung. Es gab Zeitzeugenberichte über staatliche Finanzierung von Anabolika-Forschungen zu Dopingzwecken in der Bundesrepublik, und es gab Interviews, auch welche aus der Forschergruppe der Humboldt-Universität in Berlin, aus denen hervorgeht, dass in der BRD in den 60er Jahren auch Mädchen und Jungen gedopt worden sind.

Nun liegen erstmals Original-Schriftstücke mit rechtskräftigen Unterschriften zu Doping-Forschungsanträgen mit Bundesfinanzierung vor. Alle anderen Dokumente scheinen nicht mehr existent. Bereits 2011 hatte die Berliner Gruppe öffentlich kritisiert, dass Originale verzeichneter Akten der Jahre 1969 bis 1988 zum Zeitpunkt des Forschungsauftrages nicht mehr vorlagen. Noch 1991 hatte das BISp diese bei der Bearbeitung einer parlamentarischen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zu Testosteron-Forschungen benutzt. Wurden die Akten folglich vor der Ausschreibung des Geschichtsprojektes vernichtet, wie Spitzer vermutet? Recherchen lassen diesen Schluss zu: Das Bundesarchiv übernahm 2005 letztmals Unterlagen vom BISp, für den Rest erging eine Vernichtungsermächtigung an das Bundesinstitut. Da auf Anfrage im Bundesarchiv nach Akten mit brisanten Signaturen nur noch zwei Akten vorlagen, muss im Umkehrschluss gelten: Alle anderen landeten im Schredder.

Für Professor Johannes Weberling, Leiter der Arbeitsgruppe Aufarbeitung und Recht der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), ein bedenklicher Vorgang. „Wenn das BISp an der Aufarbeitung von Dopingmissbrauch wirklich interessiert gewesen wäre, hätte es das Bundesarchiv zumindest auf die Relevanz der Akten hinweisen müssen, deren Inhalte ihm bestens bekannt waren.“ Jahrzehntelang gab sich die Bundesrepublik im Leistungssport als das saubere Deutschland aus, als fairer Gegenpart der DDR und ihrem Staatsdoping. Ein trügerisches Bild, die Wirklichkeit sieht offenbar anders aus.

Anabolika, Insulin & Co

Anabolika: Anabolika sind Substanzen, die den körperlichen Aufbaustoffwechsel anheizen. Die Wirkung begründet sich hauptsächlich auf der Förderung des Eiweißaufbaus. Die bekanntesten Vertreter sind die anabol-androgenen Steroide. Neben dem Hormon Testosteron kommen synthetische Derivate wie Nandrolon, Stanozolol oder Metenolon als anabol-androgene Steroide zum Einsatz. Durch die Einnahme wird nicht nur der Muskelaufbau gefördert, sondern auch Aggressivität, Reizbarkeit sowie der Sexualtrieb.

Insulin: Insulin ist ein Hormon, das den Blutzuckerspiegel senken kann und wird vor allem bei Diabetespatienten eingesetzt. Als Dopingmittel eingesetzt, unterstützt Insulin die Wirkung von Anabolika oder Wachstumshormonen. Es fördert die Ausdauer durch vermehrte Einlagerung von Glykogen in die Muskelzellen, gilt jedoch als extrem gefährlich, weil es exakt dosiert werden muss.

Wachstumshormone: Das Wachstumshormon (Somatotropin oder HGH für human growth hormone) ist ein Peptidhormon, das aus insgesamt 191 Aminosäuren aufgebaut ist. Im Fettgewebe stimuliert es den Abbau von Fetten. Auch anabole Effekte wie eine Verbesserung des Muskelwachstums werden erzielt.

Aktuelle Dopingfälle: In letzter Zeit hat vor allem die Leichtathletik-Affäre um die Sprinter Asafa Powell (Jamaika) und Tyson Gay (USA) für Schlagzeilen gesorgt. Bei Gay, Dreifach-Weltmeister von 2007, liegt mittlerweile eine positive B-Probe vor. Auf welches Dopingmittel ist nicht bekannt. Erst am gestrigen Montag hat der ehemalige deutsche Radrennfahrer Erik Zabel in der „Süddeutschen Zeitung“ ein umfassendes Dopinggeständnis abgelegt und zugegeben, von 1996 bis 2003 gedopt zu haben Epo, Cortison und mit Bluttransfusionen.

Spektakuläre Dopingfälle: Auch in Deutschland gab es immer wieder spektakuläre Dopingfälle. Erinnert sei Leichtathleten Dieter Baumann („Zahnpasta-Affäre“) 1999, an den Ski-Langläufer Johann Mühlegg, der bei Olympia 2002 des Blutdopings überführt wurde und natürlich die Radprofis des Team Telekom, allen voran Jan Ullrich und Erik Zabel.

Merk für Dopinggesetz: Auf Anfrage dieser Zeitung erklärte Bayerns Justizministerin Beate Merk gestern in einer schriftlichen Stellungnahme: „Ich möchte ganz klar betonen: Zu den Erkenntnissen aus der Zeit Anfang der 70er Jahre kann ich nichts sagen. Mir ist klar, dass die Haltung zum Doping damals jenseits und möglicherweise auch diesseits des eisernen Vorhangs eine andere war. Das hat sich von staatlicher Seite aus zum Glück geändert. Was mich interessiert, ist die aktuelle Lage im Sport“, so die CSU-Ministerin. „Wir dürfen es nicht dulden, dass der Eindruck entsteht: 'Doping gehört im Spitzensport dazu, das macht ohnehin jeder.' Sondern wir müssen das Vertrauen in den Sport wieder herstellen – auch im Interesse all der jungen Sportler und ihrer Gesundheit. Die Erkenntnisse zeigen: Geständnisse kommen meist dann, wenn der Nachweis ohnehin geführt werden kann. Deshalb ist es wichtig, den Nachweis zu erleichtern. Und dazu brauchen wir dringend effektive Instrumente zum Nachweis des Doping“, so Merk, die sich weiter für ein wirksames Dopinggesetz ausspricht: „Dazu gehört für mich vor allem eine Strafbarkeit des Besitzes von Arzneimitteln oder Wirkstoffen zu Dopingzwecken ab dem ersten Milligramm – sonst kommen wir an die dopenden Sportler selbst nicht heran. Außerdem brauchen wir eine Kronzeugenregelung, um die Mauer des Schweigens gerade im Spitzensport zu durchbrechen. Und wir brauchen eine Strafbarkeit der Anwendung jeglicher Dopingmethode unabhängig vom verwendeten Stoff. Ich habe dazu im letzten Jahr einen aktualisierten Gesetzentwurf vorgelegt, für den sich bislang noch keine eindeutige Mehrheit ergeben hat. Aber die Diskussion ist im Fluss. Und ich hoffe, dass sich durch die neuen Erkenntnisse bald in möglichst vielen Köpfen die Überzeugung breit macht: Wir müssen etwas ändern!“

ONLINE-TIPP

Auf unserem Online-Portal finden Sie Auszüge der Original-Akten, ein Video mit dem Autor sowie weitere Hintergrund-Informationen zum Thema Doping: www.mainpost.de/online-tipp

Text: ach/Quellen: eigene, Pharmazeutische Zeitung, Institut für Biochemie DHS, Köln

„Das kann auch tödlich enden.“
Endokrinologe Bruno Allolio über die Gabe von Insulin an Gesunde
Gefragter Experte: Dr. Joseph Keul (vorne, Zweiter von rechts) von der Uni Freiburg bei einer Sitzung des Sportausschusses des deutschen Bundestags zum Thema Doping im Jahre 1977 in Bonn.
Foto: Imago | Gefragter Experte: Dr. Joseph Keul (vorne, Zweiter von rechts) von der Uni Freiburg bei einer Sitzung des Sportausschusses des deutschen Bundestags zum Thema Doping im Jahre 1977 in Bonn.
 
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