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Fußball: Relegation zur 2. Bundesliga
Der Irrsinn von Ingolstadt
Der 1. FC Nürnberg war fast abgestiegen, dann verhinderte Fabian Schleusener mit seinem Tor in der 96. Minute den Sturz in die Drittklassigkeit. Trainer Michael Wiesinger sieht seine Mission erfüllt.
Der Schuss ins Nürnberger Glück: Fabian Schleusener (rechts) spitzelte den Ball an Ingolstadts Torwart Marco Knaller vorbei zum 1:3. Das Auswärtstor in der 96. Spielminute reichte zum Klassenerhalt.
Foto: Heiko Becker/HMB Media via Sportfoto Zink/Daniel Marr/ | Der Schuss ins Nürnberger Glück: Fabian Schleusener (rechts) spitzelte den Ball an Ingolstadts Torwart Marco Knaller vorbei zum 1:3. Das Auswärtstor in der 96. Spielminute reichte zum Klassenerhalt.
Hans Strauß
Hans Strauß
 |  aktualisiert: 13.02.2024 11:45 Uhr

Die Ingolstädter Audi Arena ist ein Stadion, an das Fabian Schleusener bisher nur schlechte Erinnerungen hatte. Im März vergangenen Jahres brach er sich dort im Trikot des SV Sandhausen bei einem Zusammenprall mit dem gegnerischen Torwart das Schienbein. Der 1. FC Nürnberg verpflichtete ihn im letzten Sommer trotzdem. Erst im November konnte er wieder spielen, aber Schleusener wirkte bei seinen Einsätzen noch gehemmt und ein Tor für seinen neuen Verein gelang dem 28-Jährigen nicht.

Das änderte sich am Samstagabend grundlegend.  Fünf Minuten und 25 Sekunden waren in der auf fünf Minuten bemessenen Verlängerung gespielt, da hatte der eingewechselte Schleusener nach einem verzweifelten Heber von Patrick Erras plötzlich freie Bahn im Ingolstädter Strafraum und spitzelte den Ball ins Netz.  Es war der Schuss, der alles auf den Kopf stellte, der Schuss ins Glück für den Club, das Millionen-Tor. Mit einem relativ komfortablen 2:0-Vorsprung aus dem Hinspiel der Relegation zur 2. Bundesliga waren die Nürnberger angereist. Nach drei Gegentreffern binnen elf Minuten in der zweiten Halbzeit standen sie bereits mit mehr als einem Bein in der 3. Liga. Doch Schleuseners 1:3 brachte die Rettung. Bei 3:3 Toren in der Addition entschied nach der umstrittenen Regel das erzielte Auswärtstor zugunsten des Zweitligisten. 

"Ich bin unfassbar froh, dass wir es geschafft haben. Ich weiß nicht, ob ich jemals so viele Männer in Tränen gesehen habe."
Club-Torschütze Fabian Schleusener

"Unfassbar" war das Wort, das nach dem nervenzerfetzenden letzten Saisonspiel des deutschen Profifußballs am häufigsten fiel. Auch Torschütze Schleusener verwendete es. "Ich bin unfassbar froh, dass wir es geschafft haben", sagte er. Und auch, dass er nicht wisse, "ob ich jemals so viele Männer in Tränen gesehen habe". Torwart Christian Mathenia weinte, genauso wie Hanno Behrens, der am Ende die unvermeidliche Frage gestellt bekam, ob der für Dramen mit negativem Ausgang berühmt-berüchtigte Club dieses Mal kein "Depp" gewesen sei. "Nein", sagte Behrens, "diesmal ausnahmsweise nicht".  Dass der Kapitän ungefragt noch dem nach der Punkterunde freigestellten Trainer Jens Keller und dessen Assistenten Thomas Stickroth dankte ("Beide waren Supertypen"), das hatte Stil.

In Stilfragen nicht so sicher traten zwei Vertreter des unglücklich gescheiterten FC Ingolstadt auf. Kapitän Stefan Kutschke, der seit einer Saison in Nürnberg nicht mehr gut auf den Club zu sprechen ist, versuchte Enrico Valentini bereits kurz vor der Pause mit Äußerungen zu dessen Familie zu provozieren. In einem Stadion ohne Zuschauer bekommen so etwas viele mit. Nach dem Abpfiff war der 1:0-Schütze kaum einzufangen und bot auch Club-Trainer Michael Wiesinger Schläge an. Beides ging eindeutig zu weit.

Freude, Erleichterung, blanker Wahnsinn: Nürnbergs Trainer Michael Wiesinger lässt seinen Emotionen nach dem Abpfiff freien lauf.
Foto: Matthias Balk, dpa | Freude, Erleichterung, blanker Wahnsinn: Nürnbergs Trainer Michael Wiesinger lässt seinen Emotionen nach dem Abpfiff freien lauf.

FCI-Trainer Tomas Oral war mit den Schanzern vor einem Jahr bereits in der Relegation aus der Zweiten Liga abgestiegen. Nach der nächsten bitteren Pille ("Das ist pervers") witterte Oral eine Verschwörung aller höheren Fußball-Mächte: "Das haben wir nicht verdient. Vor einer Woche hat uns Würzburg durch einen unberechtigten Elfmeter den Aufstieg weggenommen, heute lässt der Schiedsrichter fünf Minuten nachspielen." Doch die Dauer der Extrazeit entsprach dem Üblichen. Dass Schiedsrichter Christian Dingert noch etwas drauflegen würde, war nach der langen Verletzungspause von Ingolstadts dreifachem Torvorbereiter Marcel Gaus in der Verlängerung vertretbar. Und auch der Vorwurf, Verteidiger Nico Antonitsch sei direkt vor dem Nürnberger Tor gefoult worden, ließ sich bei der Überprüfung nicht erhärten. Vielmehr stolperte der Ingolstädter beim Richtungswechsel über die Beine von Nürnbergs Michael Frey.

"Wir müssen uns für nichts rechtfertigen, aber auch für gar nichts."
Nürnbergs Trainer Michael Wiesinger

"Wir müssen uns für nichts rechtfertigen, aber auch für gar nichts", sagte Club-Trainer Wiesinger, wusste aber auch: "Der Fußballgott hat uns die Hand gereicht." In der ersten Halbzeit hatte seine Mannschaft das Geschehen kontrolliert, aber wenig daraus gemacht. Als Ingolstadt nach der Pause aggressiver wurde, leistete sich Nürnberg zu viele Fouls und wurde ohne den verletzt auf der Bank sitzenden Abwehrchef Konstantinos Mavropanos prompt ein Opfer der Ingolstädter Standard-Stärke. Allen drei Gegentoren gingen Freistöße voraus. Beim ersten patzte Mathenia, der Erras den Ball auf den Körper faustete, sodass Kutschke leichtes Spiel hatte (53.).  Beim 0:2 und 0:3 gab es keinerlei Druck auf die Kopfballschützen Tobias Schröck (62.) und Robin Krauße (66.). Der Club brauchte ein Tor - und er reagierte. Die Einwechslungen fruchteten, es gab Chancen, doch Freys Drehschuss am Kasten vorbei (87.) schien nicht mehr wettzumachen zu sein.

Wiesinger hat zusammen mit Marek Mintal die Rettung doch noch geschafft, nun will er wieder in seinen eigentlichen Job als Leiter des Nachwuchszentrums zurückkehren. "Mein Auftrag ist erfüllt", sagte er. Er sehe sich grundsätzlich "nicht mehr auf dem Platz", hatte er schon vorab verdeutlicht. Was passiert, wenn dem beim Club nun noch mehr geschätzten Ex-Profi tatsächlich der Cheftrainer-Posten angetragen wird, bleibt  trotzdem abzuwarten.

Dank an den Retter: Nürnbergs Sportvorstand Robert Palikuca mit Torschütze Fabian Schleusener.
Foto: Heiko Becker/HMB Media via Sportfoto Zink/Daniel Marr/ | Dank an den Retter: Nürnbergs Sportvorstand Robert Palikuca mit Torschütze Fabian Schleusener.

Vor allem aber ist die Zukunft von Sportvorstand Robert Palikuca zu klären, dem Fehler bei der Kaderzusammenstellung und bei der Verpflichtung von Trainer Damir Canadi angelastet werden. "In den nächsten Tagen" werde eine Entscheidung fallen, sagte Palikuca in Ingolstadt. Er soll dem Aufsichtsrat bereits eine Personalplanung für die kommende Saison vorgelegt haben. Der nächste Neuaufbau ist unabdingbar. Robin Hack dürfte nicht zu halten sein, die Leihspieler Mavropanos und Frey sind wieder weg, Erras und Mikael Ishak werden sich verändern.

Palikucas Vorstandskollege Niels Rossow wusste, an welcher wirtschaftlichen Katastrophe der Club so knapp vorbeigeschrammt war. Alleine über 15 Millionen Euro an Fernsehgeldern hätte der Verein verloren. Ein Abstieg hätte den Verein "für ein Jahrzehnt" zurückgeworfen, sagte der Finanzchef auf der Tribüne.  "Die 3. Liga wäre der blanke Existenzkampf geworden."  Ein Stellenabbau und niedrigere Gehälter wären unvermeidlich gewesen: "Wir sind immer noch ein großer Tanker, das hätten wir nicht halten können." Nicht nur geräderte Fans, sondern auch manche Club-Angestellte haben nach dem Irrsinn von Ingolstadt trotz allen Adrenalins  wohl gut schlafen können. 

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