Leichtathletik-Chef Clemens Prokop sieht eine Chance zur Aufarbeitung der Dopingpraktiken in der Bundesrepublik, für Fritz Sörgel, Doping-Experte und Leiter eines Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Heroldsberg bei Nürnberg, ist das „Sittenbild Sport“ vervollständigt. Die Dissertation des Wissenschaftlers Simon Krivec von der Universität Hamburg zum Anabolika-Missbrauch im Westen lässt kaum mehr Zweifel zu: Auch in der Bundesrepublik wurde beim Kampf um Titel und Medaillen kräftig nachgeholfen.
Unterdessen sind zwei weiterere Leichtathleten an die Öffentlichkeit gegangen: Diskuswerfer Alwin Wagner bestätigte die Doping-Ausführungen seines Kollegen Klaus-Peter Hennig. „Früher galt ich als Nestbeschmutzer, heute wäre ich wohl ein Whistleblower“, sagte Wagner. „Ich hoffe, dass nun weitere ältere Sportler motiviert sind und sich bekennen und auch Ross und Reiter nennen.“ Wagner hatte bereits in früheren Jahren die Einnahme verbotener Mittel gestanden und die damalige Doping-Problematik immer wieder angeprangert. Am Sonntag war bereits Hennig an die Öffentlichkeit gegangen. Am Dienstag berichtete auch Kugelstoßer Gerhard Steines, EM-Fünfter von 1978, in seinem Blog über die Einnahme von Anabolika.
Mit der Dissertation und den Reaktionen darauf nimmt die Diskussion um die Aufarbeitung der westdeutschen Doping-Vergangenheit wieder Fahrt auf: Erst dieser Tage hatte der Wissenschaftler Andreas Singler in einer Studie den früheren Olympia-Chefarzt Joseph Keul als einen der „am meisten dopingbelasteten Sportmediziner in Westdeutschland“ bezeichnet. Im Jahr 2013 hatte diese Redaktion in Zusammenarbeit mit der „Märkischen Oderzeitung“ aufgedeckt, dass die Freiburger Sportmediziner Joseph Keul und Herbert Reindell bereits Anfang der 1970er Jahre an ihrer Universität steuerfinanzierte und anwendungsorientierte Dopingforschung mit Anabolika, Insulin und Wachstumshormonen betrieben habe.
31 Leichtathleten räumen Doping ein
Experte Sörgel begrüßte derweil die jetzt veröffentlichte Studie. „Für die Diskussion in der Gesellschaft ist es auch wichtig, weil man jetzt wieder ein bisschen mehr sagen kann: Ja, so war's wirklich!“, sagte Sörgel mit Blick auf die Dissertation von Krivec. Darin haben 31 ehemalige Leichtathleten Anabolika-Doping in der Zeit von 1960 bis 1988 eingeräumt. Sechs Athleten haben der Veröffentlichung ihrer Namen zugestimmt, darunter Hennig und Wagner.
Die Nationale Anti-Doping-Agentur Nada hat derweil mit Krivec Kontakt aufgenommen. „Um zu erfahren, ob und inwieweit sich aus dem wissenschaftlichen Werk auch Erkenntnisse für unsere aktuelle Anti-Doping-Arbeit ergeben“, erklärte Nada-Sprecherin Eva Bunthoff.
Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), sieht die Chance, Doping im damaligen Westdeutschland nun besser aufzuarbeiten zu können. „Juristisch ist das natürlich verjährt“, sagte Prokop am Montag. „Aber das Spannende ist: In welchen Strukturen, mit welchen Mechanismen geschah dies damals?“
Krivec will seine Dissertation am 3. April veröffentlichen. Die Reaktion der Athleten, die an der Befragung teilnahmen, sei „durchweg positiv gewesen“, nachdem seine Arbeit am Wochenende publik wurde. Der 29-Jährige ist Pharmazeut und besitzt in Krefeld zwei Apotheken. Er hat nach eigenen Angaben 121 ehemalige männliche Spitzensportler des DLV angeschrieben, 61 haben ihm geantwortet, 42 haben sich zur Sache geäußert, „und 31 Athleten haben die Einnahme von Anabolika bestätigt“, sagte Krivec.
Nach den neuen Enthüllungen hat der Verein Doping-Opfer-Hilfe (DOH) eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Dopingvergangenheit gefordert. „Hier darf nichts mehr hinter der Nebelwand verschwinden, weder in Ost noch in West. Das sind wir den vielen Opfern schuldig“, sagte die DOH-Vorsitzende Ines Geipel in einer Mitteilung. Beteiligte Trainer, Ärzte, Funktionäre und Politiker müssten zur Verantwortung gezogen werden.
Sörgel: „Toleriertes Staatsdoping“
Im Vergleich zum Staatsdoping im Osten beschreibt Sörgel die Praktiken im Westen als „toleriertes Staatsdoping oder Staatsdoping unter stillem Druck, denn ein Nicht-Hinschauen ist 100 Prozent Mitschuld“. Man solle diese Studie sportpolitisch so weit als möglich nutzen, forderte Prokop. „Das Ergebnis selbst ist in seiner Grundausrichtung nicht überraschend. Ich war immer der klaren Auffassung, dass im Osten und Westen gedopt wurde“, so der DLV-Präsident, der das Anti-Doping-Gesetz mit auf den Weg gebracht hatte.