
Die Füße brennen, das Shirt klebt nass geschwitzt zwischen Rücken und Rucksack. Es ist erst 10 Uhr, die Luft schon schwer, schwül-heiß. Autos hupen, rechts umgehen wir einen Kreisverkehr, tauchen in den Schatten der Urlaubsbunker von Lido di Jesolo. Bunte Strandtücher flattern an den Balkonen, aufblasbare Plastiktiere lugen über die Brüstungen. Zwischen den Bauten führt ein schmaler Weg zur Promenade. Die letzten Meter. Hand in Hand. Das Herz klopft bis zum Hals, Gänsehaut zieht trotz der Hitze über die Arme. Im Kopf wirbeln tausend Gedanken. Noch eine Hotelreihe – und dann ein weißer Streifen Strand. Dahinter Blau. Das Meer.
Tränen fließen. Wir weinen. Lachen. Rennen, bis die ersten Wellen an die Bergschuhe schwappen. Wir haben es geschafft, wir sind von Deutschland bis hierher, bis ans Mittelmeer, gelaufen. Einen Monat lang, rund 500 Kilometer zu Fuß.
Monatelange Vorbereitung: Karten studieren, Etappen planen, Hütten reservieren
Zwei Jahre haben wir auf diesen Moment gewartet, davon geträumt. Es war der dritte Versuch. Den ersten beendete ein Infekt, den zweiten zerstörten ein Zehenbruch und eine gerissene Sehne. Diese Erfahrung wanderte mit, das Wissen, eine solche Tour ist ein Abenteuer. Alles kann gelingen, alles kann schiefgehen.

Ein Monat zuvor, es ist der 30. Juni. Die Ostwand des Watzmanns leuchtet in der Morgensonne, noch herrscht Ruhe um St. Bartholomä. Rot-bedacht spiegelt sich die Wallfahrtskirche im Königssee. Hier beginnt unser Weg.
Vom Watzmann bei Berchtesgaden wollen mein Mann Joachim und ich über die Drei Zinnen nach Venedig wandern, dabei die Alpen von Norden nach Süden überqueren. Zu zweit, auf einer selbst zusammengestellten Route. Insgesamt 29 Etappen, manche mit gut 1600 Höhenmetern im Aufstieg, manche über 25 Kilometer lang. Monatelang haben wir die Strecke geplant. Karten im Wohnzimmer studiert, Wanderführer gelesen, Online-Portale durchstöbert, Hütten zum Übernachten reserviert.
Nun gehen wir die ersten Schritte. Im Bauch kribbeln Freude und Aufregung. Wir sind oft in den Bergen, aber auf einmal wirkt es verrückt, überheblich, so weit laufen zu wollen. Reichen das Können, die Kondition, die Kraft? Überschätzen wir uns? Ist eine solche Tour mit einer Schwäche im linken Fuß, die mir nach einer Rückenerkrankung geblieben ist, überhaupt möglich? Die Fragen klacken im Kopf so laut wie die Wanderstöcke auf dem Boden.
In den Bergen hat das Wetter die Macht - das spüren wir in den ersten Tagen deutlich
Vom Königssee geht es steil hinauf zum Kärlingerhaus. Es ist heiß, der extra leicht gepackte Rucksack noch schwer. Da Gewitter gemeldet sind, lassen wir die Pausen aus und erreichen die Hütte früh, aber trocken. Das Wetter hat in den Bergen die Macht.
Von Beginn an spüren wir das deutlich. Teils zeigt das Thermometer nur sechs Grad, es regnet ausdauernd. Kalte Hüttenduschen werden zur Herausforderung, der dicke Schlafsack wird zum Zufluchtsort. Erst in den Hohen Tauern, auf dem Weg Richtung Großglockner, kommt die Sonne heraus.

Am sechsten Tag ist der Himmel blau, perfekt. Unser Ziel ist der Spielmann (3027 Meter) und danach das Glocknerhaus mit Logenblick auf den höchsten Berg Österreichs.
Taunasse Gräser streifen die Waden, der Weg führt durch Blumenwiesen, passiert sprühende Wasserfälle. Mit zunehmender Höhe wird es rauer, felsiger, dann stapfen wir im Schnee zur Unteren Pfandlscharte. Im Gradeinschnitt öffnet sich der Blick nach Süden, weit über Schneefelder, Eis und Fels. Wir stehen, schnaufen, zittern. Der Wind pfeift kalt.

Wie eine braun-graue Pyramide ragt der Spielmann auf. Noch knapp 400 Höhenmeter sind es bis zum Gipfel. Wir steigen über loses Gestein, teils große Felsblöcke. Der Weg ist leicht zu begehen, erst am Ende eine kurze Kletterei, ein paar Züge am Drahtseil, dann stehen wir oben. Am Kreuz. Allein. Wolken wirbeln, bauschen sich auf und fallen wieder in sich zusammen. Rings um uns schneebefleckte Bergriesen.
Stille. Sonne im Gesicht. Wir hören nur den Wind und unsere Herzen. So fühlt sich Glück an.
Vielleicht sind solche Momente eine Antwort auf die Frage nach dem Warum dieser Tour. Eine andere ist die Freiheit.

Weitwandern heißt, wochenlang nur mit dem Rucksack zu laufen und zu leben. Den ganzen Tag draußen zu sein, unter freiem Himmel. Sich zu bewegen, zu spüren. Zu fühlen, wie Angst die Knie wackeln oder Hunger die Stimmung kippen lassen kann. Und zu merken, wie die Seele trotz aller Belastungen ruhig wird, ausgeglichen.
Alltagszwänge, Termine, Erwartungen sind weit weg. Aufstehen, Rucksack packen, frühstücken, laufen, essen, schlafen. Das war's.
Das Leben reduziert sich. Gegessen wird, was es in den Hütten gibt. Angezogen wird die Hose, die nicht dreckig ist. Weniger Auswahl bedeutet weniger Entscheidungen. Das befreit. Und macht Kleinigkeiten wertvoll. Frisches Obst, saubere Wäsche, eine heiße Dusche, einen warmen Schlafplatz.
Sturzregen, böiger Wind und Hagel auf dem Weg zur Lienzer Hütte
Zwei Tage nach dem Spielmann-Gipfel fühlen wir das extrem. Die Wettervorhersage ist denkbar schlecht für sieben, acht Stunden bis zur Lienzer Hütte. Regen, einstellige Temperaturen, eventuell Gewitter. Wir zögern, suchen den Rat der Hüttenwirte, wohl wissend, dass die Natur stärker ist, dass Menschen sich im Gebirge nur respektvoll anpassen können. Schließlich gehen wir mit Bauchgrummeln ins Grau.

In den ersten Stunden haben wir Glück, nur ab und an erwischt uns ein Schauer. Bis kurz vor der Gößnitzscharte (2737 Meter). Mitten im braun-felsigen Niemandsland wird aus Wind Sturm. Binnen Sekunden setzt Sturzregen ein. Keine Chance, zusätzlichen Regenschutz anzuziehen. Die Hose hängt triefend an den Beinen, Hagelkörner prasseln schmerzhaft ins Gesicht. Wir stemmen uns mit den Wanderstöcken gegen die Böen, suchen mit zusammengekniffenen Augen nach roten Markierungen. Nur nicht stürzen, nicht umknicken.
In der Scharte sehen wir nichts. Die Pfade sind kleine Bäche, die Felsen rutschig. Wir gehen langsam, setzen jeden Schritt mit Bedacht. Je tiefer wir kommen, desto mehr lässt der Regen nach, aus Fels wird wieder Gras. Eine Schafherde kreuzt blökend den Weg, der Anblick der wolligen Tiere beruhigt. Irgendwann erreichen wir die Lienzer Hütte, treten tropfend in den Flur. Warme Luft dampft aus dem Trockenraum, die eisklammen Hände tauen kribbelnd auf. Erleichterung.
Weitwandern ist zu 80 Prozent Kopfsache
Eine Alpenüberquerung ist anstrengend. Körperlich und psychisch, ein ständiges Auf und Ab. Manche Etappen berauschen, andere führen durchs Tal, auf Asphalt, sind lang und langweilig. Passagen, die bei geführten Touren gerne mit dem Bus übersprungen werden. Wir aber haben uns in den Kopf gesetzt, jeden Meter zu Fuß zu gehen.
Der Kopf, er spielt die entscheidende Rolle. Zu 80 Prozent, heißt es, sei Weitwandern Kopfsache. Man muss wollen. Das stimmt. Das merken wir am zwölften Tag beim Aufstieg zur Sillianer Hütte, zum Karnischen Höhenweg. Der Pfad ist zugewuchert, Stechmücken jagen unsere Arme und Beine, schwüle Luft macht das Atmen schwer. Und im Kopf fragt eine fiese Stimme, warum wir gerade nicht einfach irgendwo am Strand liegen.

Sie verstummt schlagartig, als wir oben ankommen. Direkt auf der Kammlinie schlängelt sich der bekannte Höhenweg, ein weißer Stein markiert die Grenze nach Italien. Österreich liegt hinter uns, vor uns ragen die Dolomiten auf. Die Dreischusterspitze, die Sextener Rotwand, die Drei Zinnen weiter hinten. Bizarre Felszacken und Türme, erhaben und gewaltig.
Minutenlang stehen wir und schauen. Fotografieren, obwohl die Kamera weder die Größe der Gipfel noch unsere Empfindungen einfangen kann. Dankbarkeit. Zufriedenheit. Demut, angesichts dieser Natur, in der wir so winzig sind.

Ähnliches erleben wir zwei Tage später bei den Drei Zinnen. Wie spitze Zähne erheben sie sich aus einer grau-beigen Mondlandschaft, schroff, unwirklich fast. Vor zwei Jahren standen wir auf dem Gipfel der Großen Zinne, heute bleiben die Spitzen in den Wolken. Es wirkt, als wollten sie sich vor den Menschenmassen verstecken. Von der Auronzohütte, die mit Bus und Auto erreichbar ist, wälzt sich eine lärmende Prozession heran. Familien in Flipflops, Instagrammer mit Selfie-Stick, ein Mann mit Katze im Rucksack. Zu laut, zu viel.
Im Hochsommer ächzen die Dolomiten unter dem Ansturm der Touristen
Über Zehntausend Menschen tummeln sich an Spitzentagen um das Unesco-Welterbe. Seit Jahren debattiert Südtirol erhitzt über Grenzen für den Ansturm. Fragt man Einheimische, schütteln sie den Kopf. Erst wenn der Trubel nachlässt, im Herbst, gehen sie wieder rauf zu den Zinnen.
Jetzt, im Hochsommer, gibt es die ruhigen Momente in den Dolomiten nur ganz früh am Morgen oder späten Abend. Oder dort, wo keine Seilbahn, keine Straße den Zustieg erleichtert. Um Cortina d' Ampezzo oder auf den ersten Etappen des Dolomiten Höhenwegs 1 kaum. Das oft wimmelnde Wandern ist unseres nicht und trotzdem berauscht die Natur.


Zum Beispiel am Lago Coldai. Wie auf einem Balkon liegt der See hoch über Alleghe, das Wasser glitzert tiefblau-türkis, klar, eiskalt. Am Ufer entlang zieht sich ein Spinnennetz aus weißen Pfaden durchs Hellgrün der Wiese. Dahinter erhebt sich die Civetta, riesig, stoisch. Eine 1000 Meter hohe Felsmauer, in allen Variationen von grau und braun.
Wir queren direkt unter der Wand, immer wieder schweift der Blick nach oben, auf die Türme und Zacken. Unser Tagesziel, das Rifugio Tissi, thront gegenüber auf einer Felskante. Die Hütte ist Symbol der Höhenweg-Tage. Überlaufen, laut, aber umgeben von einer Landschaft, die all das vergessen lässt.

Früh am nächsten Morgen steigen wir zur Cima di Col Rean, zum Gipfel direkt hinter der Hütte. Zwischen den Silhouetten der Dolomiten-Riesen schweben noch nächtliche Nebelstreifen. Dann schiebt die Sonne langsam ihre Strahlen über die Civetta, lässt den Himmel leuchten. Rosa, blassrot, lila und orange.
Der Klettersteig über die Schiara ist die anspruchsvollste Etappe der Tour
Drei Tage und zwei Gewitter später, ist es so weit. Per Klettersteig Via Ferrata Marmol wollen wir die Schiara überklettern. Die finale Alpenetappe, die anspruchsvollste der gesamten Route.
5.15 Uhr. Während in den anderen Stockbetten im Lager des Rifugio Pian de Fontana noch gleichmäßig geschnaubt wird, schleichen wir hinaus. Zähne putzen auf der Wiese, dick belegte Panini essen, loslaufen.


Zweieinhalb Stunden lang begegnet uns kein Mensch. Die Schiaragruppe ist wild, auf dem Pfad steht das Gras teils hüfthoch, ein Murmeltier pfeift. Irgendwann erreichen wir Fels, ein Schneefeld schrumpft links des Weges. Dann stehen wir in der Scharte Forcella del Marmol und müssen schlucken.
Hinter uns liegen die Alpen, unzählige Gipfel, Kuppen, Grate. Vor uns, auf der Südseite der Schiara, ist kein hoher Alpengipfel mehr. Nur eine dicke Schicht Wattewolken. Darunter irgendwo Belluno, die Voralpen-Kette des Nevegal, und flaches Land. Bis zum Meer.

Das ehrfürchtige Innehalten währt nur kurz. Dann geht es im Klettersteig abwärts, rund 600 Höhenmeter, teils als schottriger Weg, teils ausgesetzt am Fels. Eine knallrote Biwakschachtel klebt in der Wand, sie dient als Notunterkunft bei Wetterstürzen - und uns als Pausenplatz. Danach werden die Passagen steiler. Wir steigen konzentriert, mit Weitwander-Rucksack ist die Bewegung in der Vertikalen ein Balanceakt. Unter den Füßen geht es in die Tiefe, wo Tritte im Fels fehlen, helfen Eisenstifte oder Leitern.
Auch nach der Überquerung der Alpen von Nord nach Süd bleiben die Zweifel im Kopf
Kurz vor einem schmalen Felsband ist die Sicht weg, feuchte Wolken hüllen uns ein. Plötzlich knackt es, rumpelt, kracht. Steinschlag. Ein Kletterer vor uns hat ein Stück Fels losgetreten. Das Poltern will niemand im Klettersteig hören. Die Stunden kosten Kraft. Erst als wir das Rifugio 7° Alpini erreichen, fällt die Anspannung ab, ein paar Glückstränen fließen. Emotional war die Überquerung der Alpen für uns der wichtigste Teil der Tour.


In Belluno legen wir eine letzte Pause ein, waschen die nach einer Woche muffige Wäsche, essen endlich Pizza. Abends spendiert uns ein Barbesitzer am Domplatz einen Prosecco, aus Freude darüber, dass wir zu Fuß von Deutschland bis in seine Bar gelaufen sind. Wohin wir weitergehen? Die Antwort, ans Meer, löst innerlich noch immer Unbehagen aus.
Noch immer sind es mehr als 100 Kilometer, noch immer ist da die Unsicherheit. Jeden Moment kann die Tour vorbei sein, eine Verletzung, eine Erkrankung den Traum platzen lassen. Die Zweifel im Kopf wollen nicht verstummen.
Bei 36 Grad durchs italienische Flachland: Die Etappen entlang des Piave sind zäh
Und tatsächlich wird der letzte Teil hart. Noch nicht, als wir den Nevegal, einen Voralpen-Rücken hinter Belluno, überwandern und oben zum ersten Mal das Meer am Horizont sehen. Auch nicht in den Prosecco-Weinbaugebieten, die hügelig fast an Unterfranken erinnern. Aber danach. In der Ebene.
Auf dem Traumpfad München-Venedig folgen wir dem Flusslauf des Piave Richtung Süden. Auf Schotterpisten, Asphalt, einem Hochwasserdamm. Von Kirchturm zu Kirchturm, bei bis zu 36 Grad. Die verfrorenen ersten Nächte in den Hohen Tauern sind ferne Erinnerung, wir schwitzen allein durchs Atmen. Die Etappen sind zäh. Keine spektakulären Weitsichten, keine technische Herausforderung. Monoton einen Fuß vor den anderen, begleitet vom Zirpen der Zikaden.

Plötzlich, in einer namenlosen Straße, hupt ein weißer Kastenwagen neben uns. Wir zucken zusammen, der Fahrer drosselt sein Tempo. Aus dem offenen Fenster streckt er uns den hochgereckten Daumen entgegen, schenkt uns ein breites Grinsen. Die Geste berührt, die unerwartete Anfeuerung motiviert.
Monate zuvor, bei der Planung der Tour, haben wir bewusst kurze Etappen mit etwa fünf Stunden für den Flachland-Teil gewählt, um nicht in die Hitze zu laufen. Gesünder ist das. Nachmittags, wenn wir beschäftigungslos auf den nächsten Morgen warten, hadern wir mit dieser Vorsicht. Sie zieht die Tour in die Länge, strapaziert die Geduld.
Ankunft am Meer - genau einen Monat nach dem ersten Schritt
Noch zwei Mal schlafen. Ein Mal. Ein Gefühl wie als Kind vor Weihnachten. Am 30. Juli klingelt der Wecker umsonst, wir sind längst wach. Noch rund 22 Kilometer bis zum Meer, bis Lido di Jesolo. Im Dunkeln gehen wir los. Genau einen Monat nachdem wir am Watzmann den ersten Schritt gemacht haben.
Auf der Straße zur Lagune von Venedig zählen wir Schritte, Mückenstiche, Radfahrer. Der Kopf blendet alles aus und nimmt doch jedes Detail gestochen scharf wahr. Den letzten Kreisverkehr, das Riesenrad mit den roten Gondeln, die letzte Hotelreihe. Joachims Hand, die meine fest umschlossen hält. Den weißen Streifen Sand. Das Mittelmeer.

Der Moment löst alles auf. Die Anspannung, die Bedenken, die Zweifel, die Enttäuschung der beiden Vorjahre. Bei dieser Tour war nicht nur der Weg das Ziel, sondern dieser Augenblick.
Der Gang nach Venedig am nächsten Tag, zum Endpunkt der Route, ist Zugabe. Eine heiße, von Campingplatz zu Campingplatz. Es riecht nach Süden, Benzin und Sonnencreme. Gegen Mittag zeigt die Navigation der Uhr am Handgelenk noch einen Kilometer. Den letzten. Dann stehen wir mit unseren Rucksäcken still auf dem Markusplatz. Inmitten von Tauben und Touristen.
Angekommen. Begreifen können wir das noch nicht.
Bin beeindruckt
Ein tolles Abenteuer mit sicher vielen Herausforderungen.
Lg. JKörber