Für s.Oliver heißt es warten. Weil von rechts ein Staubsauger vorbeizieht, gefolgt von Seitenbacher. Dann endlich eine Lücke – die Chance für s.Oliver. Im Schlepptau folgt das Juliusspital. Bis Zalando seine Vorfahrt einfordert. Es geht zack, zack, zack. Ein Tanz der Markennamen. Eine wilde Jagd über ein Fließband-Labyrinth. Die Pakete fahren Achterbahn.
Verpackt ist die Achterbahn in einer U-förmigen Halle mit fast 300 Meter Länge in Kitzingen: Vor den Toren der Stadt, im Gewerbegebiet Am Dreistock, steht eines von 36 deutschen Paketzentren. Auf einer Fläche von gut 11,2 Hektar nimmt die Hufeisen-Halle als Herzstück 34 000 Quadratmeter ein.
Von außen hat das Paketzentrum etwas von einem Hochsicherheitstrakt. Beim Pförtner geht es nur einzeln hinein und einzeln heraus. Der dringende Hinweis auf die "Ausweistragepflicht" ist nicht zu übersehen. Rucksack-Kontrollen erfolgen nach dem Zufallsprinzip. Da hilft es auch nichts, dass man mit Alexander Böhm unterwegs ist, dem Pressesprecher der Deutschen Post DHL Group aus Frankfurt. Sicherheit und Kontrolle gehen vor.
Mit Eintritt in die Hufeisen-Halle eröffnet sich eine neue Dimensionen: Ein zwei Kilometer langes Förderband, das wie eine Krake mit allen 164 Ladetoren verbunden ist. Mit zwei Meter pro Sekunde sausen einem hier die Pakete um die Ohren. Dafür stehen 34 Codier- und Auflegelinien zur Verfügung. Das sorgt für einen Umfang, für den als treffender Vergleich sogar der Mond herhalten muss: Die Pakete, die in Kitzingen seit dem Start der DHL-Anlage vor 25 Jahren durchliefen, reichen aufgestapelt bis zum Mond.
Das Kitzinger Paketzentrum, das täglich zigtausend Pakete an Kunden in Nordbayern verteilt, wurde am 27. September 1994 als eines der ersten in Deutschland in Betrieb genommen. Seither werden hier alle ein- und abgehenden Pakete behandelt, die auf dem Absender beziehungsweise der Empfängeradresse eine Postleitzahl (PLZ) tragen, die mit 97 oder 96 beginnt. Der Bereich ist fast deckungsgleich mit Unterfranken und Oberfranken.
Um das zu stemmen, sind 380 Mitarbeiter im Schichtbetrieb tätig. In den Wochen vor Weihnachten kommen noch einmal um die 150 Saisonarbeiter hinzu. Jede Hand wird gebraucht, damit die Paket-Flut bewältigt werden kann. Ausnahmezustand im Hufeisen.
Als das Paketzentrum in Kitzingen vor 25 Jahren als eines der Ersten in Deutschland loslegte, ratterten stündlich 20 000 Pakete über die Achterbahn. Dauernde technische Nachbesserungen sorgen dafür, dass die Schlagzahl auch in dem in die Jahre gekommenen Paketzentrum erhöht wurde und in die Zeit von Black Friday und ungebremstem Paket-Wahnsinn passt: Erst wurde auf 28 000 Pakete pro Stunde erhöht. Aktuell sind 32 000 Sendungen pro Stunde möglich.
Wer weitere eindrucksvolle Zahlen wissen möchte, ist bei Alexander Böhm richtig: In den vergangenen 25 Jahren rasten ziemlich genau 1,5 Milliarden Pakete durch die Kitzinger Anlage. "Würde man diese Pakete aneinanderreihen, könnte man die Erde etwa zwölfmal umrunden", sagt Böhm. Und es geht immer weiter: Inzwischen kommen innerhalb von 24 Stunden weitere 300 000 Pakete dazu, in Spitzenzeiten wie Weihnachten schießt der Tagesdurchlauf auf rund 500 000 Sendungen hoch.
Das lässt dann auch erahnen, welche Werte in dem Paketzentrum Stunde für Stunde unterwegs sind. Und es erklärt die durchsichtigen Rucksäcke der Mitarbeiter und weshalb man am Pförtner nur einzeln und mit Stichproben-Kontrollen vorbeikommt.
Schnelligkeit zählt – das war auch der Grund für das neues Logistikkonzept für Pakete vor 25 Jahren im gesamten Bundesgebiet. Mit den fünfstelligen Postleitzahl ab 1993 sowie aufgrund der Wiedervereinigung Deutschlands knüpfte die Deutsche Post ein neues Paketnetz, das die Laufzeit der Pakete halbierte. Waren Pakete seinerzeit drei bis vier Tage unterwegs, erscheint das heute unvorstellbar. "Die Zustellung einen Tag nach der Einlieferung ist heute Standard“, sagt Bernhard Michels und verweist auf eine Erfolgsquote von über 80 Prozent. Der 53-jährige Stuttgarter ist seit 37 Jahren im Unternehmen und seit diesem April Leiter des Kitzinger Paketzentrums.
Dass es hier so gut läuft, ist auch so etwas wie sein größtes Problem: Die Mitarbeitersuche gestaltet sich schwierig. 40 Leute könnte Michels vom Fleck weg sofort einstellen. Nur: Im Landkreis Kitzingen herrscht bei einer Arbeitslosenquote von genau zwei Prozent nahezu Vollbeschäftigung.
Zupacken sollten potenzielle Bewerber indes können. Denn ohne Handarbeit geht es trotz der ausgebufftesten Laufband-Technik auch heute nicht. An den sechs sogenannten Vorsortern müssen die aus den Postfilialen und Packstationen angelieferten sowie die bei Kunden direkt abgeholten Pakete allesamt per Hand auf die Förderbänder gelegt werden. Dabei kommen Tonnen zusammen: Die Pakete wiegen zwischen 250 Gramm und 31,5 Kilo – alles darüber hinaus läuft unter Sperrgut. Alle Mini-Pakete werden, damit sie auf den Förderbändern nicht verloren gehen, in eine Schale gelegt, die intern den schönen Namen "Mausefalle" trägt.
Auf den Förderbändern, die teilweise wie große Wasserrutschen im Freibad wirken, lesen Scanner die Anschriften der Sendungen und erzeugen einen Code, der festlegt, wohin die weitere Reise des Pakets geht. Um alles lückenlos dokumentieren und auf den Weg bringen zu können, wird ein Paket von der Aufgabe in der Filiale bis zur Annahme durch den Empfänger insgesamt fünfmal gescannt.
Für die Pakete ist die Kitzinger Achterbahnfahrt ein eher kurzes Vergnügen: Zwischen Start und Ende der Fahrt vergehen höchstens zehn Minuten. Derweil man als Besucher gefühlt Stunden braucht, um nur ansatzweise zu ahnen, was da auf den Förderbändern vor, hinter und über einem passiert.
Zusätzlich heißt es aufpassen, weil überall Rollbehälter und Gabelstapler unterwegs sind. Dazu kommen Techniker, die auf Fahrrädern unterwegs sind: Weil die Anlage nie still steht, muss bei laufendem Betrieb gewartet werden. Auch hier gilt: Schnelligkeit zählt. Im Zweifelsfall steht man als neugieriger Besucher in dem Gewusel immer im Weg.
Um zu veranschaulichen, was da genau passiert, bemüht Bernhard Michels den Vergleich mit Import und Export. Tagsüber wird exportiert: Die im eigenen Zuständigkeitsbereich aufgegebenen Pakete werden in der Kitzinger Anlage sortiert und codiert, um den Weg hinaus antreten zu können. Ein Weg, der zwingend über eines der 35 anderen deutschen Paketzentren führt.
Abends ab 21.30 Uhr beginnt dann der Import, alles passiert genau umgekehrt: Die Pakete aus den 35 Zentren mit Empfängern im 97er und 96er Postleitzahlenbereich treffen in Kitzingen ein. Vor der Zustellung im eigenen Versorgungsgebiet wird wieder sortiert und codiert. In den weiteren Nachtstunden geht's in Lastwagen, die sich auf den Weg zu Zustellstationen machen. Dort übernimmt dann der Postbote, um an den Kunden schließlich ausliefern zu können.
So wie die Anlage nie still steht, reißt auch der Paketstrom niemals richtig ab. Und wer glaubt, dass sich nach dem Fest der Feste die Lage wieder einigermaßen normalisiert, wird von Bernhard Michels eines Besseren belehrt. Der Hochbetrieb hält noch locker bis Ende Januar an. Nach den Feiertagen nehmen abrupt die Rücksendungen zu. Und wer Geld oder Gutscheine bekommen hat, bestellt gerne zwischen den Jahren munter drauflos – und alles geht von vorne los.
Die Konsumgesellschaft lässt grüßen. Nach Weihnachten ist inzwischen längst wie vor Weihnachten. Das immergleiche Spiel von Codieren und Sortieren setzt sich fort, scheinbar unermüdlich. Mit dem altbekannten Tanz: s.Oliver folgt dem Staubsauger, Seitenbacher kämpft mit dem Juliusspital und Zalando um eine Lücke auf dem Förderband. Zack, zack, zack. Im Hufeisen am Kitzinger Dreistock ist die Welt eine Achterbahn.