
Hoch oben über Stettfeld ist Alfred Mennel zuhause. Von seinem schmucken Grundstück bietet sich ein phantastischer Blick über das schöne Maintal hier zwischen Schweinfurt und Bamberg. Dieser Sonntag im Oktober ist ein besonderer, und natürlich hat sich Alfred Mennel wieder akribisch vorbereitet. Das Auto steht im gepflasterten Hof, und im Kofferraum liegt bereits seit Samstag die fertig gepackte Sporttasche. Trikot, Hose, Stutzen, Pfeife, alles liegt parat für das Spiel SC Trossenfurt-Tretzendorf II gegen VfR Hermannsberg-Breitbrunn II. B-Klasse Schweinfurt 3. Von hoch oben in Stettfeld fährt Alfred Mennel hinab in die tiefsten Niederungen des Amateurfußballs. Es ist sein letztes Spiel.

Alfred Mennel ist 84 Jahre alt. 1962 leitete er sein erstes Spiel als Schiedsrichter. Welches es war, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Damals war die Bundesrepublik noch jung, Heinrich Lübke Bundespräsident und Sepp Herberger, Vater des "Wunders von Bern" noch Bundestrainer. Eine genaue Statistik gibt es nicht, aber der Verband hat berechnet, dass er rund 1700 Spiele gepfiffen hat.
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Aus dem Berufsleben ist der ehemalige Zigaretten-Vertreter schon lange ausgeschieden, in wenigen Stunden wird Alfred Mennel auch Fußball-Rentner sein. Um 11.45 Uhr macht sich der drahtige Senior auf den Weg in den Steigerwald nach Trossenfurt. Schwiegertochter Sandra hat noch schnell die Aufstellungen beider Teams ausgedruckt. "Neun gegen Neun, da fehlen wohl ein paar Leute", sagt Mennel, dann steigt er wie jeden Sonntag ins Auto und fährt los.

15 Minuten später ist der Sportplatz in Trossenfurt erreicht. Alfred Mennel setzt seine Maske auf und geht in die Umkleidekabine. Die Teams spielen heute in dunkelrot und schwarz, Mennel entscheidet sich deshalb für sein türkisfarbenes Schiedsrichter-Trikot. "Schwarze Trikots waren früher für die Spieler tabu", erinnert sich der erfahrene Schiri an die alten Zeiten.
Nur noch wenige Minuten bis Spielbeginn. Alfred Mennel verstaut gelbe und rote Karten, Pfeife, Stift, Uhr und das Notizkärtchen in der Hemdtasche des Trikots. Jetzt schaltet der 84-Jährige sein Hörgerät ein, auf das er angewiesen ist und von dem später noch die Rede sein wird. Dann geht er über braunes Herbstlaub über einen Trampelpfad hinauf zum Fußballplatz. Alfred Mennel hätte an diesem Sonntag einen gepflegten Rasen verdient, stattdessen erwartet ihn ein Spielfeld, das in Fußballerkreisen gemeinhin als "Acker" bezeichnet wird.

Der Fußmarsch bergauf ist für den Schiedsrichter-Dino schon Aufwärmen genug. In den folgenden 90 Minuten wird er mehr laufen als manch einer der Reserve-Kicker. Im Gegensatz zu denen lässt sich Mennel auch nicht auswechseln, wenn die Puste nicht mehr ausreicht. "Ich bin zwar nicht schnell, aber ausdauernd", sagt der Senior unter den Schiedsrichtern, der kein Problem damit hat, stets auf Ballhöhe zu sein. In der B-Klasse ist das Spiel ja nicht so temporeich.
"Früher habe ich bei der Ersten Mannschaft mittrainiert, später bin ich dann noch locker fünf Kilometer gelaufen", sagt er. Die gute Kondition sieht man dem drahtigen Rentner auf den ersten Blick an, auch wenn die Extra-Läufe unter der Woche schon länger der Vergangenheit angehören.
Noch bevor der Ball rollt, sind die Offiziellen der Schiedsrichtergruppe schon da. Sie verabschieden den langjährigen Schiedsrichter vor dem Anpfiff mit vielen warmen Worten und Geschenkkörben, voll mit einer schmackhaften Brotzeit. Auch die Funktionäre der beiden am "Abschiedsspiel" beteiligten Vereine und seines Heimatklubs SC Stettfeld bedanken sich bei Alfred Mennel, der die Zeremonie äußerlich völlig gelassen über sich ergehen lässt.

Für ihn kommt das alles ja eigentlich auch zwei Jahre zu früh. "Ich hätte gerne noch die 60 vollgemacht." Er bedauert, dass Corona seine Laufbahn nun schon nach 58 Jahren beenden wird. Doch geht die Gesundheit vor. Der Stettfelder hat nach einer Krebs-Erkrankung vor 18 Jahren nur noch eine Niere, eine Ansteckung mit dem Coronavirus wäre mit einem großen Risiko behaftet. Also hört Alfred Mennel lieber auf die Warnungen seiner Ehefrau Hannelore und beendet seine Laufbahn.
Das Hörgerät streikt
Dann ist es soweit. Das letzte Spiel beginnt. Fünf Minuten zu früh pfeift Alfred Mennel an, auf was soll er an diesem bewölkten Herbsttag auch warten? Im gesamten Spiel hat er nur eine knifflige Situation zu überstehen: Ein umstrittener Strafstoß für die Heimmannschaft ruft die üblichen und wohl auch berechtigten Proteste der Gäste hervor, aber Mennel bleibt bei seiner Entscheidung. Dass der Elfmeter am Tor vorbeistreicht, beruhigt die Hermannsberger Kicker schnell, sie reden von "ausgleichender Gerechtigkeit".
Ein klarer Strafstoß auf der Gegenseite wird kurz danach ebenso verschossen. "Die hätte ich beide wahrscheinlich rein gemacht", sagt der 84-Jährige in der Halbzeit-Pause, immerhin war er selbst mit über 60 Jahren noch aktiver Fußballer. In Durchgang zwei gibt es wenig zu tun für den Schiedsrichter. Die Karten bleiben in der Hemdtasche. Nicht einmal eine gelbe muss er ziehen. Und das, obwohl er gerade deren Einführung vor genau 50 Jahren für die wichtigste Regel-Neuerung überhaupt hält.

"Das war eine richtig gute Sache", erinnert sich Mennel an die Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko, als die gelben Karten erstmals eingesetzt wurden. "Damit konnte ich einem Spieler nach ein paar kleineren Vergehen deutlich zeigen, dass es genug ist." Zuvor gab es nur die Entscheidung, die Spieler zu ermahnen oder gleich vom Feld zu schicken. "Der Zwischenschritt gelbe Karte hat da vieles vereinfacht."
Dann geschieht aber doch etwas Außergewöhnliches: Ausgerechnet in seinem letzten Spiel streikt etwa 15 Minuten vor Spielende sein Hörgerät. Die Batterie gibt ihren Geist auf. Gut, dass die Partie da schon entschieden ist, die Begegnung steuert einem gemächlichen Ende entgegen. Zu überlegen ist die mit 4:1 führende Gastmannschaft, es wird auch das Endergebnis sein.
Um 14.30 Uhr ertönt sein letzter Pfiff
Der von der Seitenlinie geäußerte Vorwurf, "der pfeift ja eh nur auf Zuruf" ist spätestens jetzt absurd. Der Ausfall der technischen Unterstützung hat keine Folgen, für das bisschen, was er zu entscheiden hat, braucht Alfred Mennel seine Augen, nicht seine Ohren. Und von den Spielern oder Zuschauern bleibt die kleine technische Panne ohnehin unbemerkt.
Es ist 14.30 Uhr, als ein langgezogener Pfiff über den Acker von Trossenfurt ertönt. Es ist der letzte Pfiff im Leben des Fußball-Schiedsrichters Alfred Mennel. Schluss. Die Spieler beider Mannschaften bilden ein Spalier durch das der Senior vom Feld schreitet. Ein Abgang mit viel Applaus.

Der führt noch einmal bergab zum Hauptspielfeld in Trossenfurt. Da steht, nicht ganz zufällig, jetzt das Spiel seines SC Stettfeld an. Dass der am Ende mit 1:5 deutlich unterliegt, versüßt Mennel den Abschied von der Fußball-Bühne nicht gerade. Eher schon der von zuhause mitgebrachte und mit Honig gesüßte Pfefferminz-Tee. Der war eigentlich als Pausengetränk gedacht, Mennel hatte ihn aber in seiner Kabine vergessen. Die Aufregung war dann wohl doch etwas zu groß.
Drei Worte nach 58 Jahren
Ein bisschen wehmütig ist dem 84-Jährigen nun aber doch zumute. "Es ist vorbei", sagt er. Drei magere Worte nach 58 Jahren, mehr Emotion erlaubt sich Alfred Mennel auch jetzt nicht. Der letzte Akt seiner Schiedsrichtertätigkeit, das Absenden des elektronischen Spielberichtsbogens, geschieht mit Hilfe der Verantwortlichen in Trossenfurt. Computertechnik ist nichts mehr, was er sich noch zu eigen machen wollte.

Und nun? Sonntags wird Alfred Mennel nun an der Seitenlinie bei den Spielen seines Heimatvereins zuschauen. Die ehemaligen Schiedsrichter-Kollegen müssen ihn aber als Zuschauer nicht fürchten, der Rentner ist keiner, der von draußen "abseits" oder "Foul" brüllt, besserwisserisch Entscheidungen kritisiert oder sogar akribisch Fehler notiert. "Die macht schließlich jeder", weiß er.
Zurück in Stettfeld werden das Trikot gewaschen und die Fußballschuhe ein letztes Mal gesäubert. Dann kommt alles zusammen mit den gelben und den roten Karten und der Pfeife in einen Schrank. Für die kommenden Ausflüge zum Fußballplatz braucht es zwar noch das Auto, die Schiedsrichterausrüstung aber hat ihren Dienst getan.
Wie unser Autor den Schiedsrichter Alfred Mennel kennenlernte
