
Vor fünf Jahren kam das Leben im Land zum Erliegen. Um die Ausbreitung des bis dahin weitgehend unbekannten Coronavirus einzudämmen, kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Lockdown an. Die Menschen sollten zu Hause bleiben, ihre Kontakte einschränken, sich isolieren. Ein in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin beispielloser Eingriff in die Grundrechte. Vielen haben sich die Erfahrungen des Lockdowns, der am 22. März 2020 startete, ins Gedächtnis eingebrannt.
Von Beginn der Pandemie an hat der Journalist und Fotograf Lukas Reinhardt sechs Menschen aus Bamberg begleitet. Das erste Mal besuchte er sie im Frühjahr 2020 an ihren Fenstern. Aus diesem Projekt entstand eine Porträtserie. Nun, nach fünf Jahren, hat er die Protagonistinnen und Protagonisten wieder getroffen, an Orten, die für sie Freiheit bedeuten. Dort sprach er mit ihnen über die Erfahrungen in der Isolation, was diese Zeit mit ihnen gemacht hat und wie sie heute auf die Pandemie blicken.
1. Sarah Lill, 38, Zahnärztin: "Plötzlich war ich mit mir alleine"

"Zu Beginn des Lockdowns dachte ich, die Welt geht unter. Vor der Pandemie bestand meine Freizeit vor allem darin, mich mit Freunden zu treffen, feiern zu gehen und Konzerte zu besuchen. Ich habe das gebraucht, weil ich alleine gelebt habe. All das war von einem auf den anderen Tag weg. Plötzlich war ich mit mir alleine. Ich war damals sehr einsam.
Die einzigen Menschen, die ich in dieser Zeit gesehen habe, waren meine Arbeitskolleginnen und Patienten. Als Zahnärztin zählte ich zur Berufsgruppe der Systemrelevanten. Anfangs war die Unsicherheit groß, es fehlte an Masken. Ich hatte Angst vor dem Virus. An vorderster Front, den Aerosolen am offenen Mund ausgesetzt, bestand für mich ein besonders hohes Ansteckungsrisiko.
Mit FFP2-Maske vor Mund und Nase sowie heruntergeklapptem Plastikvisier vor dem Gesicht ging es Zahnstein und Karies an den Kragen. Das war beklemmend. Aber als sich zeigte, dass die Schutzmaßnahmen helfen, legte sich die Angst. Und es tat gut, wenigstens diesen persönlichen Kontakt zu anderen Menschen zu haben.

Vor der Pandemie hatte ich immer Angst, etwas zu verpassen. Mit dem Lockdown konnte ich das nicht mehr. Es gab nichts mehr zu verpassen. Dadurch bin ich ruhiger geworden, bis heute. Mittlerweile kann ich am Wochenende auch mal zu Hause bleiben. Mein Fokus liegt stärker auf meiner Familie. Der Lockdown war für mich eine Chance, zur Ruhe zu kommen und innezuhalten. Trotzdem: Ich würde diese Zeit auf keinen Fall noch einmal so haben wollen. Aber ich habe für mich das Beste draus gemacht und sehe heute die positiven Anteile – im Gegensatz zu damals."
2. Michi Schmitt, 40, Kommunalpolitiker: "Immer gleiche Tagesabläufe"

"Wenn ich an den Lockdown denke, habe ich ein neutrales Gefühl. Das liegt auch an den verschwommenen Erinnerungen. Es gab wenig Anknüpfungspunkte, kaum Erlebnisse und Begegnungen, dafür aber viele Redundanzen, etwa immer gleiche Tagesabläufe.
Eine Woche vor dem ersten Lockdown wurde ich für die Grünen in den Bamberger Stadtrat gewählt. Mein Ziel war und ist es, mich vor allem für die freie Kulturszene einzusetzen, die schon immer ums Überleben kämpft. Die Pandemie hat diesen Kampf noch einmal verschärft.
Es ist grundsätzlich mühsam, Veränderungen anzuschieben, das habe ich gelernt. Die Pandemie hat diese Aufgabe zusätzlich erschwert, sie zog politische Prozesse in die Länge, Fraktionssitzungen fanden fast ausschließlich digital statt, der Austausch untereinander ging verloren. Das hat sich zum Glück wieder geändert. Die freie Kultur kämpft noch immer mit den Folgen. Gerade sind die Rückzahlungsbescheide für die Corona-Hilfen in viele Briefkästen geflattert. Um zu verhindern, dass viele Kulturschaffende in die Privatinsolvenz gehen müssen, sollte der Staat die Rückzahlungen teils erlassen.

Ich kann nachvollziehen, dass sich Leute durch die Maßnahmen enorm eingeschränkt gefühlt haben. Auch wenn es mir selbst nicht so ging, waren die Eingriffe objektiv gesehen erheblich. Sie populistisch auszuschlachten, finde ich nicht richtig. Mit dem Wissen um die damalige Situation war dieser Weg gerechtfertigt. Eine Aufarbeitung finde ich trotzdem wichtig, um Ableitungen für die Zukunft zu treffen. Und weil eine kritische Auseinandersetzung bei vielen Leute etwas heilen würde."
3. Ulrike Aas, 70, Großmutter: "Der Garten bedeutete ein großes Stück Freiheit für mich"

"Ich erinnere mich vor allem an das Gefühl der Ohnmacht und an die Angst, die ich zu Beginn der Pandemie empfand. An die Panik, dass es mich und meinen Mann erwischen könnte. Denn es war schnell klar, dass das Virus für die Älteren besonders bedrohlich ist. Also haben wir uns abgeschottet, zehn Wochen lang. Zu Hause habe ich mich sicher gefühlt.
Wir haben in dieser Zeit viel Hilfe und Solidarität von Familie und Freunden erfahren. Sie unterstützten uns bei Einkäufen und Besorgungen. In den ersten Wochen hat sich das fast wie Urlaub angefühlt. Auch weil wir einen großen Garten hinter dem Haus haben, in dem unser Verein lokale Sorten züchtet. Er sah selten so gepflegt aus wie nach dem ersten Lockdown, weil mein Mann und ich Stunde um Stunde damit verbracht haben, die Beete für die Saison vorzubereiten.
Der Garten bedeutete ein großes Stück Freiheit für mich. Und die Entschleunigung tat auch gut. In unserem Haus aber war es plötzlich so still und leer. Wir haben heute neun Enkelkinder, damals waren es acht. Vor dem Lockdown war jeden Tag etwas los. Vom einen auf den anderen Tag war das Leben verschwunden. Das war heftig für mich.

Trotzdem empfinde ich es rückblickend als richtig, dass strenge Maßnahmen ergriffen wurden. Mir hat das ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Aber ich bin auch alt. Für meine Enkelkinder tat es mir richtig leid. Sie wussten teils gar nicht, wie ihnen geschah und wie sie sich verhalten sollten. Mit ihnen spreche ich bis heute immer wieder über diese Zeit und was sie mit ihnen gemacht hat."
4. Tom Stapelfeld, 36, Musiker: "Die Abhängigkeit vom Staat hat sich nicht gut angefühlt"

"Mit dem ersten Lockdown begann für mich als Barkeeper und Musiker ein vorübergehendes Berufsverbot. Die Kneipen waren geschlossen, die Konzerthäuser auch, und trotzdem hat es gedauert, bis ich das ganze Ausmaß realisiert habe. Überlebt habe ich unter anderem durch Geld vom Staat. Diese Abhängigkeit hat sich nicht gut angefühlt.
Damals habe ich die Entscheidung getroffen, meine Arbeit in der Gastronomie zu beenden. Rückblickend mag das ambivalent erscheinen, denn bis dahin war dieser Job mein sicheres finanzielles Standbein. Trotzdem war ich entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen und nur noch Schlagzeuger zu sein. Dieser Schritt war mit großen Unsicherheiten verbunden, weil der Kulturbetrieb von den Einschränkungen besonders betroffen war.
Dann kamen die ersten Lockerungen. Ich erinnere mich an eine kleine Tour mit der Band 'Nick & June'. Die wenigen Menschen im Publikum trugen Masken, man sah ihre Gesichter kaum. Sie standen nicht, sondern saßen auf Stühlen, mit großem Abstand zum Nächsten. Es war ein unwirklicher Anblick. Die Emotionen im Publikum fehlten, von denen man als Musiker bei Konzerten normalerweise zehrt.

Heute ist das zum Glück wieder anders. Ich habe mich von dem schlechten Start in den ersten Lockdown erholt und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich arbeite mehr denn je und erfolgreicher denn je in dem Berufszweig, den ich eingeschlagen habe. Neben verschiedenen Bandprojekten unterrichte ich inzwischen als Schlagzeuglehrer. Die Pandemie hat mir hierbei geholfen. Vielleicht hätte ich die Entscheidung, alles auf eine Karte zu setzen, ohne Corona zu spät gefällt."
5. Jennifer Richter, 43, Leiterin Ganztagsschule: "Plötzlich war da Raum für mich"

"Ich habe den Beginn der Pandemie als sehr entspannt erlebt. Plötzlich war da Raum für mich, auch weil ich mich im ersten Lockdown von meinem damaligen Mann getrennt habe, mit dem ich bis heute befreundet bin. Die Zeit hat mich motiviert, andere Dinge zu tun. Ich habe einen großen Wissensdurst verspürt, habe mich weitergebildet, zum Beispiel zur Biersommelière und zur systemischen Beraterin.
Der zweite Lockdown war für mich das Gegenteil, ich war frustriert. Vieles aus dieser Zeit verschwimmt in meinen Erinnerungen. Was mir Kraft gab, war meine neue Begleiterin Mila, eine Straßenhündin aus Rumänien. Sie ist klein, frech und lieb. Wir zwei sind uns sehr ähnlich.
Im Verlauf der Pandemie habe ich mich zunehmend isoliert, aus Angst vor einer Ansteckung. Zum ersten Mal erwischte mich das Virus dann im Juli 2022. Ich lag flach, es fühlte sich an wie eine schwere Grippe. Aber diese Infektion hat mich noch deutlich länger beschäftigt. Über Monate hinweg war ich nach der kleinsten Anstrengung erschöpft. Ich hatte keine Kraft mehr. Dieser Zustand hat mich so stark belastet, dass ich eine Depression entwickelt habe. Eineinhalb Jahre hat es gedauert, mich aus diesem Loch herauszukämpfen. Die Auswirkungen spüre ich bis heute.

Ich kann den zweiten Lockdown aber auch als Gewinn sehen. Über das Internet habe ich meinen neuen Partner kennengelernt. Wir haben in dieser Zeit so viel geschrieben und so viel telefoniert. Das längste Gespräch ging über sieben Stunden. Schon bald ist das vier Jahre her. Dieses Glück wäre ohne die Pandemie vermutlich nie geschehen."
6. Jan Ammensdörfer, 33, Pädagoge: "Ich fand Wege, um herauszukommen"

"Das Gefühl, eingesperrt zu sein, hatte ich im ersten Lockdown kaum. Damals habe ich alleine gewohnt. Aber ich fand Wege, um herauszukommen: Wenn nicht in der analogen Welt, dann in der digitalen, dachte ich mir. Also liefen parallel zum Kochen oder abends bei einem Bier Videokonferenzen mit Freunden. Es tat gut, etwas aus deren Leben mitzubekommen und nicht ausschließlich mit mir selber reden zu müssen.
In dieser Zeit dachte ich, dass es uns allen guttut, mal herunterzukommen. Ich wusste schon damals, dass das eine privilegierte Sicht ist. Als Jugendarbeiter habe ich viele junge Menschen durch die Pandemie begleitet. Im Lockdown haben wir versucht, sie digital zu erreichen. Uns war es wichtig, den direkten Draht nicht komplett zu verlieren. Vielen von ihnen fiel zu Hause die Decke auf den Kopf. Kinder und Jugendliche sind sehr sensibel, sie merken, was in ihren Familien passiert.
Die Pandemie traf sie besonders hart, nämlich in der Entwicklungsphase, in der Austausch mit anderen besonders wichtig ist. Je jünger der Mensch und je härter die Kontaktbeschränkung, desto größer der Rückschlag. Einigen, das merke ich bis heute, fehlen die Gemeinschaftserfahrungen, auch der Austausch von sozialen Normen.

Mit den Einschränkungen hatte ich kaum Probleme. Rückblickend hätte ich mir aber einen offeneren Umgang mit der Unwissenheit der Entscheidungsträger in der Pandemie gewünscht. Ja, wir sind damals auf Sicht gefahren. Eine ehrliche Aufarbeitung halte ich trotzdem für sinnvoll. Und gerade bei Kindern und Jugendlichen wäre aus meiner Sicht eine Entschuldigung vonseiten der Politik angebracht."
Der Autor und sein Projekt
