
Volker Gunzenheimer hält eine Duschbrause fest in der Hand. Der 77-Jährige duscht damit eine Druckplatte für die "Ostheimer Zeitung" ab, die er kurz zuvor im Chemiebad entwickelt hat. Große Maschinen? Fehlanzeige. Mit bloßen Händen erledigt Gunzenheimer das an einem großen Waschbecken.
Es ist der erste Moment, an dem die Zeitung, wie sie später auf Papier gedruckt sein wird, erkennbar ist wie ein Bild auf einem Fotonegativ. Bevor gedruckt wird, hängt Gunzenheimer die Platte zum Abtropfen auf. Die Bundes- und Weltpolitik baumelt an einer Wäscheklammer an einer Leine hin und her.
Generell, sagt Volker Gunzenheimer, sei der Ablauf bei der "Ostheimer Zeitung" wie in anderen Druckereien. Nur eben nicht in großen Fabrikhallen mit mehrstöckigen Druckmaschinen, sondern im Hinterhof der Paulinenstraße 32 in Ostheim mit Duschbrause und Wäscheklammer.

Familienbetrieb statt Medienkonzern: Das sind die Gunzenheimers
Die "Ostheimer Zeitung" ist wohl Deutschlands kleinste Lokalzeitung. Knapp tausend Exemplare gibt es immer montags, mittwochs und freitags. Immer zwölf Seiten. Immer mit Inhalten aus Ostheim. Alles in Handarbeit hergestellt. Und das immer von der Familie Gunzenheimer. Vier Leute, die von der redaktionellen Arbeit, der Gestaltung, dem Druck bis hin zum Verkauf und zur Verteilung alles machen. Familienbetrieb statt Medienkonzern.
Die Gunzenheimers, das sind: Vater Volker (77 Jahre), Mutter Hannelore (74), Sohn Jörg (43) und Tochter Ulla Hofmann (50). Seit 2016 ist Jörg Gunzenheimer der Chef des Familienunternehmens, davor leitete sein Vater ab 1981 den Betrieb. Und auch heute stehen Vater Volker und Mutter Hannelore noch mit in der Druckerei sowie dem Schreibwarenladen und halten das Familienprojekt am Laufen.
In der Druckerei der "Ostheimer Zeitung" beginnt der Tag kurz nach 6 Uhr

Um 5.50 Uhr klingelt bei den Gunzenheimers der Wecker. Nur einige Treppenstufen trennen die Betten der Familie von ihrer Druckerei im Erdgeschoss. Während es anderswo in Ostheim noch dunkel hinter den Fenstern ist, öffnet Volker Gunzenheimer mit einem Lächeln die Tür. Bereits frühmorgens hat der Seniorchef einen freundlichen Spruch auf den Lippen.
Aber Uhrzeit hin oder her: Die "Ostheimer Zeitung" will gedruckt werden. Schließlich sollen die "treuen Leser über die wichtigen und weniger wichtigen Ereignisse in Ostheim und Umgebung" informiert werden, wie in der Jubiläumsbeilage zum 100-jährigen Bestehen bereits 2007 zu lesen war.

Die "Ostheimer Zeitung" entsteht noch wie früher
Volker Gunzenheimer öffnet eine Tür zu einer Art Parallelwelt im Hinterhof in Ostheim, wo die Gunzenheimers noch drucken wie früher. Die Meldungen, Notizen und Anzeigen, die in die Zeitung sollen, schneidet er aus und platziert sie auf einer Seite aus Papier. Dann erst gestalten Sohn Jörg Gunzenheimer oder Tochter Ulla Hofmann am Computer die Zeitung.
Sechs der zwölf Seiten einer Zeitungsausgabe erstellet die Familie selbst. Sechs weitere bekommen die Ostheimer mit Politik und Wirtschaft zugeliefert.
Wichtig ist Ostheim, die kleinen, die lokalen Sachen. Das muss in die Zeitung. Volker Gunzenheimer berichtet über seine eigene Freizeitfahrradgruppe "Rostfrei", die örtlichen Fußballvereine, veröffentlicht in seiner Zeitung einen Vereinskalender sowie Ostheimer Sprüche und Wörter. "Auf den Dialekt legen die Ostheimer Wert", sagt er. Sein Ziel: "Ich versuche mich abzugrenzen." Er will das drucken, was die anderen nicht haben.
Die Handgriffe gehen bei Jörg und Volker Gunzenheimer beinahe wortlos vonstatten
Gemeinsam mit seinem Sohn Jörg steht der 77-Jährige in der kleinen Druckerei. Die Aufgaben sind klar verteilt: Jörg bedient die Druckmaschine aus den 1990er Jahren. Vater Volker erledigt alles drumherum, denkt schon über die nächste Ausgabe nach und faltet mit einer Maschine die Zeitungsseiten.
Der Seniorchef mischt ohnehin überall mit. Ausgebremst haben ihn nicht einmal ein Herzinfarkt und eine Knie-Operation. Vier Tage nach der Operation stand der heute 77-Jährige wieder in seiner Druckerei. Auch wenn er früher schon sportlich war, seit dem Herzinfarkt treibt er systematisch Sport für seine Gesundheit: unter anderem fährt er Fahrrad, geht ins Fitnessstudio und zum Schwimmen. Egal, was Volker Gunzenheimer macht, jede sportliche Aktivität notiert er in einem Kalender, der in der Druckerei liegt.
Vater Volker und Sohn Jörg Gunzenheimer arbeiten derweil in der Druckerei beinah wortlos. Dass zumeist geschwiegen wird, liegt nicht an der morgendlichen Uhrzeit, sondern an der Lautstärke der Maschine. Alles läuft wortlos wie am Schnürchen. "Wir reden auch so im Ablauf nicht viel. Das ist alles über Jahrzehnte eingespielt", sagt der Seniorchef.

Eigentlich sortieren Hannelore Gunzenheimer, Volkers Frau, sowie Tochter Ulla Hofmann die Zeitungsteile danach ineinander. Das alles geschieht im Vorraum der Druckerei, direkt neben dem Ladengeschäft. Heute ist Ulla Hofmann aber im Urlaub.
Neben Tochter Ulla fehlt an diesem Tag auch eine Austrägerin. Hannelore Gunzenheimer legt deshalb eine Extraschicht ein und bringt noch 70 Zeitungen zu den Leserinnen und Lesern nach Hause. Aber erst, wenn sie den Laden um 12 Uhr zusperrt.
"Ich habe schon oft ausgetragen", sagt sie. "Mit unseren Austrägern haben wir sehr großen Glück." Den Job übernehmen überwiegend Rentnerinnen und Rentner. Früher hätten auch Schulkinder die Zeitung ausgetragen, "da gab es die Zeitung erst am Mittag". Sonst landet sie bereits morgens im Briefkasten.
Zeitungssterben? Die Gunzenheimers arbeiten mit der "Ostheimer Zeitung" dagegen
"Wenn einer in Ostheim stirbt, ist es meist ein Leser gewesen", erzählt Volker Gunzenheimer. Für diejenigen, die die "Ostheimer Zeitung" noch lesen, gibt die Familie aber alles. Seine Frau sagt, dass sie "verbundene Leser" hätten. Während überall Zeitungsverlage ums Überleben kämpfen, leben die Gunzenheimers ihre Leidenschaft. Gegen alle Widrigkeiten wie gestiegene Papierkosten.
Das Verbreitungsgebiet der "Ostheimer Zeitung" erstreckt sich gerade einmal über das Stadtgebiet, eine ehemalige thüringische Enklave. "Es ist sehr klein, aber fast jeder liest die Zeitung", sagt Blattmacher Volker Gunzenheimer. Oder wisse, was in der Zeitung steht, weil der Nachbar die "Ostheimer Zeitung" lese. Auch ehemalige Ostheimer oder Menschen, die einen Bezug zur Stadt haben, lesen die Lokalzeitung. Leserinnen und Leser gebe es sogar in Bornholm und in Ostheim im Elsass.
Die Sorgen anderer Zeitungen und Printmedien haben auch die Gunzenheimers. Neben ihrer Zeitung drucken sie Speisekarten für die örtlichen Restaurants oder ähnliche Aufträge, um Geld zu verdienen. "Internetdruckereien machen einem schon zu schaffen", sagt der Seniorchef. Man habe sich damit abfinden müssen.


Neben dem Familienzusammenhalt und dem Versuch, sich von der Konkurrenz abzuheben, gibt es einen weiteren Grund, der den Gunzenheimers lange geholfen hat: "Ostheim hatte relativ viele Geschäfte und Vereine. Deswegen hat sich die Zeitung auch gehalten", erklärt der 77-Jährige. Heute sei das schwieriger. Druckereichef Jörg Gunzenheimer beklagt, dass die Stadt immer mehr Geschäfte verliere. "Mit jedem Betrieb fällt etwas weg", sagt der 43-Jährige - auch Anzeigenkunden für die lokale Zeitung.
Was die "Ostheimer Zeitung" einzigartig in Deutschland macht
Die "Ostheimer Zeitung" sei ein reiner Familienbetrieb, sagt Vater Volker Gunzenheimer, der bei der Rhön- und Saalepost in Bad Neustadt Schriftsetzer gelernt und später in Baden-Württemberg noch den Meister draufgesetzt hat. Zwischendurch war er sogar eine Zeit in der Schweiz beschäftigt - die "schönste Zeit, die ich hatte", wie er sagt.
Erstmals erschienen ist die "Ostheimer Zeitung" bereits 1907. Etwas mehr als drei Jahre später und nach mehreren glücklosen Verlegerwechseln übernahmen dann die Vorfahren der Gunzenheimers, Reinhold Werner und dessen Frau Amanda – Volkers Oma. Der heutige Seniorchef bezeichnet seine Großmutter als "Pionierfrau", weil sie die Druckerei während des Ersten Weltkriegs fortführte, obwohl ihr Ehemann zwei Jahre weg war von zu Hause.
Die "Ostheimer Zeitung" sollte dann Volker Gunzenheimers Onkel übernehmen. Da der jedoch tödlich verunglückte, sprang sein Vater ein und führte das Geschäft. Seit mehr als einem Jahrhundert ist somit die Familie Gunzenheimer die "Ostheimer Zeitung" – und irgendwie auch umgekehrt.
Seit über 50 Jahren ist Mutter Hannelore Gunzenheimer bereits im Zeitungsgeschäft
Jörg Gunzenheimer hat 2016 den Betrieb von seinem Vater Volker übernommen. "2015 war ich das letzte Mal im Urlaub", sagt er. Ob ihn das störe? "Ich bin der eigene Chef", sagt er. Es habe alles seine Vor- und Nachteile.

Ähnlich klingt das auch bei seiner Mutter Hannelore, die das letzte Mal 1998 eine Woche Urlaub hatte. "Was heißt ärgern. Es geht ja nicht anders. Man muss sich damit abfinden." Über 50 Jahre ist sie bereits im Geschäft. Sie ist für den kleinen Laden am Eingang der Druckerei verantwortlich, kümmert sich um die Buchhaltung und legt die Zeitungen ineinander.
In Rente ist die 74-Jährige offiziell schon, seitdem sie 60 ist – ähnlich wie ihr Mann. "Aber der Ruhestand beginnt erst, wenn ich herausgetragen werde", sagt sie. Ein Ende ist so oder so für die Familie kein Thema. Hannelore Gunzenheimer glaubt daran, dass ihre Kinder einen Weg finden, das Geschäft weiterzuführen.
Jörg Gunzenheimer: "Ich will das schon noch ein paar Jahre machen"
Das ist auch im Sinne von Sohn Jörg. "Ich will das schon noch ein paar Jahre machen", sagt er. Auf der finanziellen Seite sei es "noch okay, sonst würden wir es nicht machen". Wenn seine Eltern mal nicht mehr können sollten, werde es aber "schon eng". Dass es keine nächste Generation geben wird, die ins Zeitungsbusiness der Familie einsteigen wird, spricht er offen aus.

Jörg Gunzenheimer steht mit verwuschelten Haaren, T-Shirt und Jogginghose an der Druckmaschine, überprüft die Qualität der Zeitungsseiten akribisch mit einem Lineal und justiert nötigenfalls die Maschine nach. Einen Plan B? Jörg Gunzenheimer meint, dass es im Zweifel Möglichkeiten in Ostheim geben würde. Weg aus der Rhönstadt will er nicht, darauf habe er keine Lust.
An einem Schrank in der Druckerei sind viele Markierungen zu sehen. Hier haben die Gunzenheimers über Jahre dokumentiert, wie ihr Sohn gewachsen ist. Er war bereits als Bub vor allem in der Druckerei unterwegs, später hat er hier Schriftsetzer gelernt. Er liebt seinen Job, das Tüfteln, genau das, was woanders automatisiert läuft. "Schön ist, dass man überall ein wenig improvisieren muss. Das macht am meisten Spaß", so der 43-Jährige.
Jörg Gunzenheimer hat schonmal überlegt, die "Ostheimer Zeitung" als E-Paper anzubieten. Möglich wäre es, jedoch ist er der Meinung: "Man soll eine Zeitung in der Hand haben." Das sei zwar "altmodisch", aber er sehe das wie mit Büchern.
Altmodisch mag vieles bei der "Ostheimer Zeitung" wirken, aber es funktioniert bisher. Immer montags, mittwochs und freitags. Immer auf zwölf Seiten. Immer tausendmal und immer von den vier Gunzenheimers.