
Ab sechs Uhr in der Früh druckt er, jeden zweiten Tag. Wirft seine Heidelberger Einfarben-Druckmaschine an, überwacht den Bogeneinzug, passt auf, ob die Druckqualität stimmt. Wolfgang, der Neffe kommt üblicherweise um sieben, um den Onkel an der Heidelberger abzulösen. Dann falzt Volker Gunzenheimer; er legt die Zeitungsbögen erst parallell zusammen, dann über Kreuz. Nicht dass er noch übers Falzen nachdenken müsste – all die Handgriffe, die mit dem Zeitungsmachen zu tun haben, gehen automatisch. Denn Volker Gunzenheimer, 62, macht Zeitung, so lang er denken kann. Volker Gunzenheimer ist die „Ostheimer Zeitung“: Drucker, Setzer, Reporter, Fotograf, Verleger in einem. So wie sein Vater vor ihm. Und dessen Vater auch.
Es riecht nach Vergangenheit bei Gunzenheimers. Nach Druckerschwärze, Druckerfarbe, nach Leim, nach Verdünner und nach Fotoentwickler riecht es; die Dunkelkammer ist gleich nebenan im Anbau über Eck. Früher, bevor größere Zeitungshäuser Redaktion und Druckerei räumlich trennten, roch es überall im Land bei Zeitungen so. Der Geruch...
...hängt nicht nur in der Druckerei, er zieht auch nach oben in die Wohnung und nach vorn in die Geschäftsstelle , wo neben der dünnen, schwarzweißgedruckten Ostheimer Zeitung Hochglanztitel wie Neon und Geo und Gala ausliegen. Gunzenheimer erzählt, dass er im Winter Ski und im Sommer Mountainbike fahre; das bietet sich an, die Berge liegen ja vor der Haustür. Die kalte, klare Rhönluft einzuatmen ist gut. Aber dann wieder den Geruch aus der Druckerei zu haben, dieses Farbenchemie-Gemisch, das ist auch gut. Gunzenheimer lacht. „Macht irgendwie süchtig“, sagt er.
„Ich kenn's nicht anders“, sagt Gunzenheimer. Als er klein war, hat er in der Druckerei gespielt und als er älter wurde, hat ihm der Großvater ein paar Groschen gegeben, wenn er „ein bisschen was gesetzt“ hat. Das Schreiben lag ihm, das Fußballspielen auch; selbstverständlich fing er schon als Junge mit der Sportberichterstattung an. Er hat nie darüber nachgedacht, ob er auch Setzer werden sollte wie sein Vater und Großvater – er wurde es einfach. Lernte das Handwerk bei der Saalezeitung, machte den Meister, arbeitete ein paar Jahr in der Schweiz. Und dann kehrte er heim zur Ostheimer Zeitung. Gemeinsam mit seiner Frau Hannelore bewohnt er das gleiche Haus, in dem schon sein Großvater Reinhold Werner gelebt hat, jener Mann, der 1907 nach Lehrjahren in Sachsen die Ostheimer Zeitung gründete. Er arbeitet da, wo schon seine Großmutter Amanda Werner stand, die Gunzenheimer sehr bewundert, weil sie im Ersten Weltkrieg, als ihr Mann an die Front musste, stur weiter Zeitung machte, sogar bei Stromausfall. „Es wurde eine Kurbel an der Transmission angebracht und die Zeitung eben wie zu Gutenbergs Zeiten mit Muskelkraft gedruckt“, hat ihr Enkel in der Jubiläumsbeilage zum 100jährigen Bestehen der Ostheimer Zeitung geschrieben. Mittlerweile ist die Ostheimer Zeitung 103 Jahre alt. „Darauf kann man stolz sein“, sagt der Bürgermeister von Ostheim, Ulrich Waldsachs. Probleme, Skandale, Ärger mit der Ostheimer Zeitung? „Gibt's nicht“, sagt Bürgermeister Waldsachs überzeugt.
„Wir gehen hier sehr fair miteinander um“, sagt Volker Gunzenheimer. In einem Ort mit 3800 Einwohnern könne man nicht Skandaljournalismus machen. Da gehe es darum, die Chronistenpflicht zu erfüllen, neutral zu sein. Wenn allerdings ein Leserbrief komme, vielleicht zu einem Aufregerthema, dann drucke er ihn natürlich gerne ab, sagt er. Gunzenheimer hat gefalzt, gefrühstückt und telefoniert, jetzt lehnt er sich an eine alte Anrichte, auf der seine Layoutbögen aus Papier liegen. Sechs Stück genau: für sechs zu bauende Lokalseiten. Rein theoretisch...
...könnte sie Tochter Ulla oben im ersten Stock auf dem Computer bauen; rein praktisch baut sie aber Volker Gunzenheimer händisch unten in der Druckerei. So wie sein Vater vor ihm. Und der Großvater auch.
Gunzenheimer weiß, warum er seine Schreiber zuallererst in der Familie sucht. Er zahlt nämlich nichts für Berichte – keinen Cent. Kann er nicht: Bei einer Auflage von „knapp unter tausend Exemplaren“ und einem Einzelpreis von 80 Cent für die Montags- und Mittwochsausgabe und von einem Euro für die Freitagsausgabe nimmt er nicht genug ein, dass er dafür Autorenhonorare zahlen könnte. Und auch die Familien- und Unternehmensanzeigen reißen's nicht raus. Fände jemals ein Unternehmensberater seinen Weg nach Ostheim vor der Rhön zum Zeitungsverlag Gunzenheimer – er würde den Kopf schütteln angesichts des Missverhältnisses von Aufwand und Einnahmen.
„Machen Sie zu, guter Mann!“, würde er wohl raten. „Das hier lohnt sich nicht“. Volker Gunzenheimer weiß das natürlich. Weshalb er nebenbei noch eine kleine Druckerei betreibt, gemeinsam mit dem Neffen Gebrauchsanweisungen für Labore setzt und druckt; daneben Prospekte oder Beilagen. Damit und mit dem, was seine Frau Hannelore im Kiosk umsetzt, kommt die Familie über die Runden. Die Frage nach dem Geld ist keine Frage, die Volker Gunzenheimer groß interessiert.
Wollten Gunzenheimers Kinder nie weg, wollten sie nie ihr Glück woanders versuchen, wollten sie nie raus aus der winzigen Druckerei mit Betonboden und dem hundertjährigen Geruch nach Druckerschwärze? „Warum denn?“, fragt der Sohn. Die Tochter sagt: „Ich war mal in Würzburg auf der Berufsschule; Würzburg hat mir aber nicht gefallen. Zu groß.“