
Mit lautem Krach und Akkordeon-Klängen zieht die Truppe am Samstagnachmittag durch den Ort. Die 15 Gesichter sind hinter Masken verborgen, die Kleider kunterbunt und detailverliebt gestaltet aus alten Röcken, Stoffresten oder Kostümen. Ein Teilnehmer trägt einen Regenschirm, an dem Kuscheltiere baumeln. Dann: Ein lauter Peitschenknall. Geführt von vier Maskierten kommt ein großes, schwerfälliges Stroh-Ungetüm angetrottet - mitten in Zellingen, im Landkreis Main-Spessart. Passanten bleiben verwirrt stehen: "Ist denn schon Fasenachtsmaandi?"

Hinter dem Umzug verbirgt sich eine jahrhundertealte Tradition, die in Zellingen am Fasenachtsmontag - ganz wichtig: nicht Rosenmontag! - zelebriert wird. Mit viel Krach wird dabei der "Zellinger Bär" an Fasching durch den Ort getrieben und Kleingeld für den guten Zweck gesammelt. Auch in diesem Jahr schicken unterschiedliche Gruppen fünf Strohbären ins Rennen, jeder hat eine andere Route. Es gab in Zellingen sogar schon mal bis zu acht der Gestalten.
Der Bär wird in Erbsenstroh aus eigenem Anbau gehüllt
Um das Bärentreiben ranken sich Legenden und Geheimnisse. Wer unter den Strohbergen steckt, wird oft nicht verraten und das Gesicht mit einem Stück Stoff verhüllt. Normalerweise wird der oder die Auserwählte erst am Fasenachtsmontag in aller Früh eingepackt. Der Freundeskreis und die Bärengesellschaft "Stammtisch Freitag Abend" um Michael Bauermees, der seit Jahren zur Zellinger Fasenacht gehört, hat jedoch eine Ausnahme gemacht: Diese Redaktion durfte bereits eine Woche vorher die Entstehung des Zellinger Bären begleiten.

Samstag, zehn Uhr, in einem Hof im Altort: In der Scheune türmen sich schon die Strohberge. "Wir verwenden nur Erbsenstroh aus eigenem Anbau, das lässt sich gut binden. Normales Stroh ist viel zu glatt", erklärt Michael Bauermees und fügt lachend hinzu: "Nicht jeder Zellinger mag Erbsen, aber er baut sie trotzdem an."
Der 60-Jährige, der mittlerweile in Erlabrunn im Landkreis Würzburg lebt, ist seit 1973 beim Bärentreiben dabei, spielt die "Quetsche". "Ich kenne es nicht anders und habe das quasi von meinem Vater vererbt bekommen", sagt er. "Ich brenne für das Brauchtum und die Tradition, aber auch der Zusammenhalt bei uns ist einfach saustark." Nachwuchsprobleme gebe es keine, "es kommen immer wieder Junge nach".
Zugezogenen wird der "Zellinger Fasenachtsbazillus" eingeimpft
Dominik Markard steht zum Einbinden bereit, er ist zum zweiten Mal der Auserwählte. Der 32-Jährige stammt aus Estenfeld, die Liebe führte ihn nach Zellingen. 2022 wurde er zum Bären auserkoren – "eine echte Wahl hatte ich nicht", sagt er lachend. In einem Ritual wurde ihm das "Zellinger Fasenachtsbazillus" mit einem Hexentrank eingeimpft, das die Einheimischen, so heißt es, bereits seit der Geburt in sich tragen. Markard trägt lange Kleidung, einen Schal, Sturmmaske und Handschuhe. Nicht, weil ihm unter dem rund 30 Kilogramm schweren Kostüm kalt werden würde. Sondern "damit das Stroh nicht so sticht".
Jetzt geht es los: Sechs der rund 30 "Stammtischler", die teils selbst schon als Bären durch den Ort gezogen sind, umhüllen Markards Beine mit Erbsenstroh-Büscheln. Die Handgriffe sind routiniert, die Stimmung ist gut, es wird viel gelacht, ein Scherz folgt auf den nächsten. Ruhig wird es bei der Frage nach der Bindetechnik: "Grundsätzlich sind die Strohbären ziemlich gleich, aber jede Gruppe hat ihre eigenen Tricks, wir lassen uns da nicht in die Karten schauen", sagt Bauermees und grinst.
Die Haufen werden auseinandergezogen und sortiert: lange Bündel für die Beine, ein großes für den Kopf. Der Strohstaub kitzelt in der Nase. Nach und nach arbeitet sich die Gruppe von unten nach oben den Körper hoch. Bis zu zwei Stunden kann das Prozedere dauern, heute geht es schneller.



"Weil mehr Leute mit anpacken", so Bauermees, dessen Tochter schon fünfmal in dem Kostüm steckte. Dominik Markard bekommt immer wieder Wasser und ausnahmsweise ein paar Schluck Wein gereicht – aber nicht zu viel: Toilettengang ist für mehrere Stunden nicht möglich.
Der Stroh-Bär verkörpert den Teufel
Was hat es mit dem Brauchtum auf sich? "Lange hieß es, dass der Bär den Winter verkörpere, der ausgetrieben wird. Das stimmt aber nicht ganz", sago Bauermees. Die Tradition komme aus dem Mittelalter: Ihre Ursprünge habe sie noch früher, in der Legende des "Wilden Mannes", der im germanischen Volksglauben für das Wilde und Chaotische stand. "Aus dem 'Wilden Mann' wurde dann irgendwann der Stroh-Bär." Er verkörpere einen Dämon oder gar den Teufel, der ausgetrieben wird. Das Christentum bediente sich dieser Sage. "Früher hat man das sehr ernst genommen – aber heute wie früher ist es eine Riesengaudi." Der Brauch verändere sich immer wieder, das gehöre dazu.



Auch in Zellingen soll es das Bärentreiben bereits seit dem Mittelalter geben. "Gesichert ist das aber nicht. Durch mündliche Überlieferungen lasse sich die Tradition auf Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, sagt Bauermees. Sie sei aber immer wieder mal ausgestorben – "etwa, weil Krieg war". Verbreitet ist das Brauchtum vor allem im alemannischen und fränkischen Raum. Aber auch im Alpenraum und sogar in Großbritannien gäbe es eine ähnliche Tradition. "Wir waren 2011 bei einem großen Strohbären-Treffen im baden-württembergischen Empfingen eingeladen, da kamen rund 60 Gruppen aus ganz Europa zusammen."
Wird der Zellinger Torturm durchquert, ist das wilde Treiben vorbei
Mittlerweile ist Dominik Markard voll eingepackt. Das Gehen fällt ihm schwer, der 32-Jährige bewegt sich im behäbigen Schritt vorwärts. Treppen oder Bordsteine schafft man als Zellinger Bär nur mit Mühe. Da helfen dann die vier Treiber – zwei vorne, zwei hinten. Dazu kommen bunt maskierte Gestalten, die nur Schabernack im Kopf haben und anonym mit "Maske" angesprochen werden wollen. Darunter sind auch die "Teufelsgeiger", die mit Schellen Krach machen, und zwei Akkordeon-Spieler. Über 20 Leute sind bestenfalls in der Stammtisch-Truppe dabei.

"Es lebe die Zellinger Fasenacht. Mit Sang und mit Klang und Humor": Vier bis fünf Stunden lang ziehen die Närrinnen und Narren dann am Fasenachtsmontag lärmend und singend durch den Ort. Unterwegs werden Häppchen oder auch der ein oder andere Schoppen gereicht. Das Passieren des Torturms, dem Wahrzeichen von Zellingen, markiert am Mittag das Ende des Treibens.

An diesem Samstag, bei der Demonstration für die Presse, endet das öffentliche Spektakel allerdings schon nach wenigen Metern. Tradition ist schließlich Tradition. Und die gibt's halt nur am Fasenachtsmaandi.
Vielen Dank für den super Bericht.
Es gibt genug schlimme Ereignisse in der Welt, über die man berichten muss.
Hoffentlich hören am Donnerstag in der MP die Berichte über dieses blödsinnige Faschingsgejodle auf!
In dieser Zeit hätte man doch auf soviel klamauk verzichten können!!
Putin dank es Euch!!