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Ochsenfurt
100 Jahre alte Schnappschüsse: Was die geretteten Glasnegative vom Dorfleben am Main zeigen
Frau am Brunnen, spielende Kinder, ein Kuhgespann. Josef Murrs Fotos vom Alltag in Mainfranken um 1920 kamen auf glücklichem Weg ins Ochsenfurter Stadtarchiv. Das ist zu sehen.
Fotografiert von Josef Murr vor 100 Jahren mit der Plattenkamera: Vermutlich die jüngeren Schulkinder von Goßmannsdorf (Lkr. Würzburg) bei einem Ausflug an die Tauber. Das Bild wurde auf dem Holzplatz auf einem Stapel Floßholz aufgenommen.
Foto: Josef Murr | Fotografiert von Josef Murr vor 100 Jahren mit der Plattenkamera: Vermutlich die jüngeren Schulkinder von Goßmannsdorf (Lkr. Würzburg) bei einem Ausflug an die Tauber.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:20 Uhr

Frau am Brunnen, spielende Kinder, ein Kuhgespann. Josef Murrs Fotos vom Alltag in Mainfranken um 1920 kamen auf glücklichem Weg ins Ochsenfurter Stadtarchiv. Das ist zu sehen.

Besonderheit Nummer eins: Die 150 Glasplattennegative waren schon im Bauschuttcontainer gelandet. Und es würde die Fotos nicht mehr gehen, hätte ein aufmerksamer Passant sie nicht vor der Entsorgung gerettet. Besonderheit Nummer zwei: Die Fotografien aus der Gegend um Goßmannsdorf und Ochsenfurt sind gut 100 Jahre alt – und sie zeigen Alltagsszenen.

Häcker im Weinberg. Spielende Kinder am Main. Eine alte Frau am Brunnen beim Wasserholen. Der Kolonialwarenladen. Ofenhändler mit ihrem Pferdegespann. Ein Kuhgespann auf der Dorfstraße. Gewöhnliches, Vertrautes, Alltägliches – das nach dem Ersten Weltkrieg der Goßmannsdorfer Josef Murr auf Glasplatten bannte.

Dieser Alltag, diese unmittelbaren und - oft wohl - ungestellten Motive, sind es, die Josef Murrs Aufnahmen für den Ochsenfurter Stadtarchivar Georg Menig besonders machen. "Wir haben tausende Glasplattenbilder", sagt der Archivar. "Aber sehr wenige Alltagsbilder."

Häcker im Weinberg: Das Bild zeigt die körperlich harte Arbeit in den Steillagen - und ist eine tolle Aufnahme des natürlichen Mains, vor dem Bau der Staustufen.
Foto: Josef Murr | Häcker im Weinberg: Das Bild zeigt die körperlich harte Arbeit in den Steillagen - und ist eine tolle Aufnahme des natürlichen Mains, vor dem Bau der Staustufen.
Schloss mit Kuhgespann: Diese Fotografie von Josef Murr zeigt den sogenannten Zehnthof in Nordheim am Main und ein Kuhgespann.
Foto: Josef Murr | Schloss mit Kuhgespann: Diese Fotografie von Josef Murr zeigt den sogenannten Zehnthof in Nordheim am Main und ein Kuhgespann.
Frau beim Wasserholen am Brunnenhäuschen: Der Stadtarchivar verweist auf ihre Arbeitskleidung mit Schürze, die früher bei der Haus- und Gartenarbeit stets getragen wurde.
Foto: Josef Murr | Frau beim Wasserholen am Brunnenhäuschen: Der Stadtarchivar verweist auf ihre Arbeitskleidung mit Schürze, die früher bei der Haus- und Gartenarbeit stets getragen wurde.
So war ein Steinbruch aufgebaut: Die Steine wurden gänzlich ohne Maschinen abgebaut. Die Lorenbahn und das Gleis dürften den Abtransport der Steine sehr vereinfacht haben.
Foto: Josef Murr | So war ein Steinbruch aufgebaut: Die Steine wurden gänzlich ohne Maschinen abgebaut. Die Lorenbahn und das Gleis dürften den Abtransport der Steine sehr vereinfacht haben.

Vor 100 Jahren – da ließen sich Brautpaare fotografieren und Familien mit Vater, Mutter, Kinder, alle im Sonntagsgewand, ordentlich gekämmt und mit ernstem Blick. Kommunionkinder wurden fotografiert. Und Schulklassen. Und ruhig hatte man zu sitzen und still zu stehen – das Aufnehmen vor der Erfindung des Rollfilms war aufwändig und dauerte. "Fotografen waren oft Maler oder Künstler, die das nebenbei gemacht haben", sagt Menig.

Die Bilder von Josef Murr, im Mai 1903 in Goßmannsdorf geboren, wirken da fast schon wie "Schnappschüsse". Sein Vater Gustav Murr hatte einen Gemischtwarenhandel, sagt Menig. Murr wurde Kaufmann und sei 1928 nach Köln gezogen. "Und anscheinend machte er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg viele Aufnahmen in der Maingegend."

Kinder beim Schulausflug, ein Mann beim Sägen, ein Schmied. Der Hohestadter Sammler Winfried Dürr war vor Jahrzehnten schon irgendwann an eine Hausentrümpelung in Goßmannsdorf vorbeigekommen, spickte aus heimatkundlicher Neugier in den Schuttcontainer – und zog neun große buntbedruckte Pappschachteln heraus.

Zu sehen sind Kinder der Grundschule Goßmannsdorf mit dem 1924/1925 in Goßmannsdorf tätigen Aushilfslehrer Wilhelm Huhn, der sich hier als Fotograf ausgibt. Aufgenommen wurde die Szene  vermutlich in Röttingen an der damals noch nicht verrohrten Rippach.
Foto: Josef Murr | Zu sehen sind Kinder der Grundschule Goßmannsdorf mit dem 1924/1925 in Goßmannsdorf tätigen Aushilfslehrer Wilhelm Huhn, der sich hier als Fotograf ausgibt.
Diese Aufnahme zeigt ein altes, verwinkeltes Anwesen - und die vermutlich gestellte, sympathisch anmutende Unbeschwertheit kindlichen Spiels. Auch auffällig: die schlechte Beschaffenheit der damaligen Ortswege.
Foto: Josef Murr | Diese Aufnahme zeigt ein altes, verwinkeltes Anwesen - und die vermutlich gestellte, sympathisch anmutende Unbeschwertheit kindlichen Spiels. Auch auffällig: die schlechte Beschaffenheit der damaligen Ortswege.
Mann beim Sägen: Angesichts der sauberen Kleidung und des gepflegten Äußeren wohl ein gestelltes Bild. 'Das händische Sägen ist Knochenarbeit, er wäre zumindest sehr erhitzt', sagt Stadtarchivar Georg Menig.
Foto: Josef Murr | Mann beim Sägen: Angesichts der sauberen Kleidung und des gepflegten Äußeren wohl ein gestelltes Bild. "Das händische Sägen ist Knochenarbeit, er wäre zumindest sehr erhitzt", sagt Stadtarchivar Georg Menig.

Darin: 150 lichtempfindlich beschichtete Glasplatten-Negative, 9 mal 12 Zentimeter groß. Dürr verwahrte sie. Und fand viele Jahre später im Hohestadter Peter Honecker zufällig jemanden, der Fotos digitalisieren konnte und sich des kompletten Fundus‘ annahm.

Die Digitalisierung solch großer Glasplatten – eine komplizierte und aufwändige Sache und nur möglich mit speziellen Scannern, sagt Stadtarchivar Menig. Das Ergebnis aber: sehenswert. Zwar waren manche der Aufnahmen aus dem Ochsenfurter Gau oder von der Mainschleife unter- oder überbelichtet – andere aber gestochen scharf.

Diese Aufnahme zeigt den Laden am Schafbach in Goßmannsdorf mit der Belegschaft, vermutlich Verwandte des Fotografen.
Foto: Josef Murr | Diese Aufnahme zeigt den Laden am Schafbach in Goßmannsdorf mit der Belegschaft, vermutlich Verwandte des Fotografen.
Frauengruppe am Waldesrand: Dieses Bild zeigt Frauen in Festtagskleidern und drei Mädchen. Der Kiefer nach muss das Bild irgendwo oberhalb des Maintales, in sandigem Boden, aufgenommen worden sein. Vielleicht oberhalb von Randersacker.
Foto: Josef Murr | Frauengruppe am Waldesrand: Dieses Bild zeigt Frauen in Festtagskleidern und drei Mädchen. Der Kiefer nach muss das Bild irgendwo oberhalb des Maintales, in sandigem Boden, aufgenommen worden sein.
Familie am Schafbach: Dieses Bild von einem Elternpaar mit seiner Tochter wurde in Goßmannsdorf aufgenommen. Im Hintergrund ist die alte Fußgängerbrücke und die Kirche zu sehen.
Foto: Josef Murr | Familie am Schafbach: Dieses Bild von einem Elternpaar mit seiner Tochter wurde in Goßmannsdorf aufgenommen. Im Hintergrund ist die alte Fußgängerbrücke und die Kirche zu sehen.

Die zerbrechlichen Originalplatten und die digitalisierten Abzüge überließen Dürr und Honecker dem Ochsenfurter Stadtarchiv. "Murr hat seine Kamera wohl öfter mitgenommen zu Ausflügen", sagt Menig beim Blick auf die Bilder. Den Archivar und Geschichtsforscher interessieren oft die „Nebensächlichkeiten“ und Details am Rande. Wie sah ein Gebäude in den 1920ern aus? Wie die Straßenzüge? "Alles, was die historische Wirklichkeit herholt."

Bei der Fotografie mit der älteren Frau beim Wasserholen hält er zum Beispiel nicht nur das  knorrigen Brunnenhäuschen für erwähnenswert. Sondern auch ihre Arbeitskleidung – "mit Schürze, die früher bei der Haus- und Gartenarbeit stets getragen wurde".

Buben am Main und die 'männliche Bademode' auf dem Lande. Gut zu sehen ist die Kleinteiligkeit der Weinberge auf der anderen Mainseite. Ein Detail im Hintergrund: die mächtigen Stützmauern an der heutigen Bundesstraße B3.
Foto: Josef Murr | Buben am Main und die "männliche Bademode" auf dem Lande. Gut zu sehen ist die Kleinteiligkeit der Weinberge auf der anderen Mainseite.
Buben im Wasser-hier fällt wieder die Beschaffenheit der Weinberge sowie die kleine Bucht im damals unbefestigten Mainufer auf.
Foto: Josef Murr | Buben im Wasser-hier fällt wieder die Beschaffenheit der Weinberge sowie die kleine Bucht im damals unbefestigten Mainufer auf.
Schmied mit Amboss: Dieses Bild zeigt vermutlich den Goßmannsdorfer Schmied Georg Demant.
Foto: Josef Murr | Schmied mit Amboss: Dieses Bild zeigt vermutlich den Goßmannsdorfer Schmied Georg Demant.
Marschierende mit Fahne: Dieses Bild scheint eine lokale Abteilung der 'Bayernwacht' zu zeigen. Dieser Wehrverband war der bewaffnete Arm der Bayerischen Volkspartei und entstand aus den Einwohnerwehren der Nachkriegswirren 1919, sagt Georg Menig. 'Sie war jedoch eindeutig bürgerlich-konservativ geprägt und hob sich von der 'Rotfront' der KPD und der 'Sturmabteilung' der NSDAP ab.'
Foto: Josef Murr | Marschierende mit Fahne: Dieses Bild scheint eine lokale Abteilung der "Bayernwacht" zu zeigen. Dieser Wehrverband war der bewaffnete Arm der Bayerischen Volkspartei und entstand aus den Einwohnerwehren der ...
Rummelplatz in Würzburg: Eine Aufnahme vom Volksfest-Treiben in den 20er Jahren auf dem Exerzierplatz vor der St. Adalbero-Kirche in der Sanderau. Damals war so ein Rummel schon ein buntes Treiben, sagt Archivar Georg Menig. Der Fotograf rückte springende Kinder, Schießbuden, Fahrgeschäfte und das Karussell ins Bild.
Foto: Josef Murr | Rummelplatz in Würzburg: Eine Aufnahme vom Volksfest-Treiben in den 20er Jahren auf dem Exerzierplatz vor der St. Adalbero-Kirche in der Sanderau.
 Kind im Garten: Diese Aufnahme zeigt ein Mädchen neben einem Trog, aufgenommen vermutlich in den Gartenanlagen im Unterdorf von Goßmannsdorf.
Foto: Josef Murr |  Kind im Garten: Diese Aufnahme zeigt ein Mädchen neben einem Trog, aufgenommen vermutlich in den Gartenanlagen im Unterdorf von Goßmannsdorf.
 
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Kommentare
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  • F. K.
    Vielen herzlichen Dank für den interessanten Artikel und den Einblick in das Alltagsleben von vor 100 Jahren. Kaum zu glauben, wie schnell sich die Zeiten geändert haben. Herzlichen Dank auch an den ungenannten Passanten, der die Negative gerettet hat!
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  • W. B.
    adalberokirche wohl verkehrt uhrenzifferblatt auf der verkerten seite
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  • d. b.
    Servus Daniel, bitte mach bei Antworten auf Kommentare auch kenntlich, dass du von MP bist. Grüße aus der Redaktion oderso. Danke und Grüße, Dominik
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  • A. N.
    Lieber Keesbu, stimmt! Das Bild der Adalbero-Kirche war gespiegelt . . . Wir haben das korrigiert und ausgetauscht. Danke für den guten aufmerksamen Hinweis, Alice Natter
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  • P. H.
    Es braucht sehr viele "aufmerksame Passanten", die nicht gedankenverloren an solchen Containern vorbeigehen. Wieviele Schätze sind in den vergangenen Jahren/Jahrzehnten schon unwiederbringlich verloren gegangen! Als Audiofan denke ich auch an die vielen Tondokumente auf Tonbandspulen und Cassetten, die einfach in den Müll geworfen wurden, weil man nichts mehr mit anfangen konnte. Wie schade! Wie gut, dqass es noch denkende Mirmenschen gibt!
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  • D. H.
    Das Bild mit den Häckern im Weinberg ist die fam. Murr selber
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  • A. N.
    Lieber Kommentator, liebe Kommentatorin, danke für den guten, interessanten Hinweis! Beste Grüße aus der Redaktion, Alice Natter
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  • D. H.
    Das Bild im Weinberg ist die Fam. Murr aus dem Kolonialwarenladen
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  • Veraltete Benutzerkennung
    Was für großartige Zeitzeugnisse! Wie gut, dass sie gerettet wurden.
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  • S. K.
    mal schauen was von unseren Fotos
    in 100 Jahren noch übrig bleibt...
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  • K. K.
    Haushalt.... halt

    Sie sagt: "alle alten Fotos, aus den frühen Fundus ( zT auch über 100 Jahre ) wo * ich *Niemand kenne, schmeisse mer weg !"
    Ich sage: "ich kann das emotional ...* Nicht!" Erinnerungen..... aus ca. 80 Jahren.

    Scho ... is der Haushaltssegen "schief !?*******e !
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  • T. F.
    Selbst ist der Mann.... zwinkern
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  • S. C.
    Sehr interessante Fotos
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