
Sie hat die eine Hälfte ihres Lebens in der DDR gelebt, die andere Hälfte im Westen: Roswitha Oehler (60) kam Anfang 1989 in die Bundesrepublik. Wenige Monate später fiel die Mauer. Noch heute ist sie froh darüber, wie alles gekommen ist – Höhen und Tiefen inklusive. Für den 9. November plant sie in Winterhausen, wo sie heute lebt, eine Veranstaltung, mit der sie Danke sagen will für die Wende in der deutschen Geschichte: Ein Gespräch über Lebensstationen – und über Lebensmut.
Frage: Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 konnten DDR-Bürger über Nacht in den Westen reisen. Sie waren zu dieser Zeit schon einige Monate hier in Franken. Wie kam's?
Roswitha Oehler: Im Februar 1989 hatte ich eine Besuchsreise genehmigt bekommen und habe meine Großmutter zu ihrem 90. Geburtstag in Düsseldorf besucht. Das ging, weil ich verheiratet war und mein Mann und meine Tochter sozusagen als Sicherheit zurück blieben. Von dieser Reise bin ich nicht wieder in die DDR zurückgekehrt.
War das ein spontaner Entschluss oder hatten Sie das geplant?
Oehler: Nein, das war nicht geplant. Ich bin weder aus wirtschaftlichen noch aus politischen Gründen gegangen. Mir ging es in der DDR gut, ich hatte in Magdeburg einen Job, der mich erfüllte, und auch sehr gute Eltern, Verwandte, Freunde und Kollegen. Aber es gab einen anderen Mann in meinem Leben – und der lebte in Sommerhausen. Er wäre nie in die DDR gezogen, und wir wollten zusammen leben. Und da habe ich zu mir gesagt: 'Komm, Roswitha, du bleibst da.'
Sie waren 1986 schon mal zu einer Besuchsreise im Westen gewesen. Mit welchem Gefühl haben Sie damals die Grenze passiert, die für viele unüberwindlich war?
Oehler: Damals durfte ich zur Hochzeit meiner Cousine reisen. Von Magdeburg aus ging es über Braunschweig nach Hannover. Den Moment, in dem der Zug die Grenze passiert hat, habe ich schon wahrgenommen, das eigentliche Erlebnis aber war dann, als ich in Hannover aus dem Zug stieg. Das war zwei Uhr nachts. Ich konnte den Geruch auf dem Bahnhof nicht fassen: eine Mischung aus Persil, Tosca und wer weiß noch was.

Der Intershop-Geruch.
Oehler: Genau, Sie kennen sich aus. Alles war ganz hell auf dem Bahnhof, obwohl es zwei Uhr in der Nacht war. Die Leute haben alle hochdeutsch gesprochen und waren unglaublich nett. Es war schon Wahnsinn: Wir sprechen dieselbe Sprache, und trotzdem war ich in einer ganz anderen Welt: offener, froher, heller, besser riechend. Die ganzen Klischees vom Westen erfüllten sich. Das hat mich schwer beeindruckt.
Als Sie dann später im Westen geblieben waren: Haben Sie Ihre alte Heimat eigentlich vermisst?
Oehler: Habe ich meine Heimat vermisst? Ich glaube, ich hatte einfach Sehnsucht, natürlich nach meinem Kind, meiner Familie und nach mir vertrauten Menschen. Der Franke schlechthin war für mich eine echte Herausforderung. Ich bin ja ein sehr offener Mensch, der gern auf die Leute zugeht, das war nicht immer leicht.

Sie sind im Februar 1989 in einem kleinen Ort gelandet, in Sommerhausen. Wie haben Sie sich aufgenommen gefühlt?
Oehler: Ich hatte meinen Mann und meine Tochter in der DDR gelassen, das war bekannt in Sommerhausen. Da sind schon mal Briefe im Briefkasten gelandet, in denen stand, ich solle wieder nach Hause gehen. In der Metzgerei war Totenstille, wenn ich den Raum betreten habe. Ich passte in das Raster, das 1989 immer mehr publik wurde, nämlich dass Eltern ihre Kinder verlassen, nur weil sie in den Westen wollten. Eigentlich war es daher ganz klar, dass ich in diese Schublade geschoben wurde.
Ihre Tochter wuchs also beim Vater auf: Wie hat sich denn dann Ihr Mutter-Tochter-Verhältnis entwickelt?
Oehler: Das ist die wunderbarste Erfahrung meines Lebens! Ich erinnere mich genau an den Moment als wir uns das erste Mal wiedersehen konnten. Ich erwartete sie in der Wohnung meiner Eltern in Magdeburg, sie kam die Treppe hoch, sah mich, drückte mich und sagte: "Mami, warum weinst'en? Jetzt haben wir uns doch." Und wie wir uns haben! Unser Mutter-Tochter-Verhältnis ist sehr innig, sie lebt heute in Frankfurt am Main, wir sehen uns mindestens einmal im Monat und es gibt wohl kaum etwas, was wir voneinander nicht wissen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie meine Entscheidung nicht als Entscheidung gegen mein Kind empfunden hat.

Kurz nachdem Sie im Westen waren, fing die DDR an zu wanken. Haben Sie damals bereut, beim großen Umbruch nicht vor Ort zu sein?
Oehler: Ja, sehr! Das war eine tolle Zeit. Ich hatte sehr viele Freunde in Magdeburg, Leipzig und Potsdam, mit denen ich im Kontakt war. Ein Freund hatte ein Telefon. Das wurde zwar sicher abgehört, aber das war uns egal. Und ich habe mir damals schon gedacht: Bei diesem wichtigen deutschen Ereignis bist du nicht dort, wo gerade die Post abgeht! Meine Eltern haben mich gelehrt, verhalten zum Staat zu leben, aber fest im Glauben zu stehen. 'Bitte bleib dir treu', war ihr Motto. Dass sich diese Lebenshaltung gelohnt hatte, zeigte sich plötzlich – und ich war nicht dabei!
Christen waren in der DDR in der Minderheit. Sie sind Katholikin. Sind Sie im Osten an Ihrer Glaubensausübung gehindert worden?
Oehler: Die Glaubensausübung war nicht das Problem, da hatten wir keine Einschränkungen. Die gab es woanders. Als es um die Erweiterte Oberschule ging, also um die Abiturstufe, wurde ich nicht zugelassen, obwohl ich sehr gute Noten hatte. Ich durfte dann aber doch noch eine "Berufsausbildung mit Abitur" machen. Da konnte ich wählen zwischen Baufacharbeiter, Bankkauffrau und Kellner mit Abitur. Ich habe mich für Kellner entschieden und habe das nie bereut.

In Ihrem Leben scheint es immer irgendwie eine positive Wendung zu geben.
Oehler: Das ist mir oft in meinem Leben so gegangen: Wenn mir etwas nicht gelang, war ich oft erst traurig. Aber zugleich war das immer ein Zeichen für etwas Neues, Schöneres! So war das auch damals. Ich habe ein sehr gutes Abi hingelegt, habe Binnenhandel studiert und hatte dann später beim Konsum-Verband in Magdeburg eine tolle Stelle. Ja, ich habe eine positive Lebenseinstellung. Ganz viel Kraft habe ich auch aus meinem Glauben gezogen.
Mit dem Abstand von 30 Jahren: Was sagen Sie heute den Menschen hier über die DDR?
Oehler: Da möchte ich vor allem über die Menschen – meine Freunde und Verwandten – sprechen, die alle in der DDR geblieben sind. Die haben ein Wahnsinnsleben hingelegt, auch weil sie bewusst gesagt haben: 'Wir bleiben hier! Wir lassen uns nicht entmutigen.' Die haben authentisch gelebt. Und was mich betrifft: Ja, ich bin stolz, DDR-Bürgerin gewesen zu sein.
Jetzt planen Sie für den 9. November in Winterhausen eine Veranstaltung, mit der sie Danke sagen wollen für Mauerfall und Wiedervereinigung. Geht Ihnen die Idee schon länger im Kopf herum?
Oehler: Nein, erst seit einer Nacht im Mai dieses Jahres. Wissen Sie, ich habe ja einen gesegneten Schlaf, doch da bin ich nachts um drei aufgewacht, völlig ungewöhnlich für mich. Und dann fiel mir – warum auch immer – ein: 1989? 2019? Das sind doch 30 Jahre! Dann bin ich zu meinem Kalender: Der 9. November ist ein Samstag! Und noch in der Nacht war mir klar: Roswitha, da machst du was! Und jetzt mache ich was.
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