Marat Gerchikov hat viel mitgemacht in seinem Leben. Als Kind musste er aus Weißrussland vor den Deutschen nach Tatarstan fliehen, später in Leningrad setzten dem promovierten Ingenieur die Kommunisten in der Sowjetunion zu. Seit 1995 lebt Gerchikov als jüdischer Kontingentflüchtling in Würzburg. Und blickt mit Schrecken auf Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. "Einfach nur furchtbar - ganz, ganz schlimm", so kommentiert der 85-Jährige die aktuelle Entwicklung.
Der Witwer, der neben der russischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist hinter Josef Schuster stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde für Würzburg und Unterfranken. 95 Prozent der rund 1000 Mitglieder seien russischsprachig, sagt Gerchikov. Gut die Hälfte habe ihre Wurzeln in der Ukraine, die Übrigen meist im heutigen Russland. In der Würzburger Gemeinde feiern sie zusammen die jüdischen Feste, treffen sich zu Gottesdiensten in der Synagoge und verbringen ihre Freizeit gemeinsam beim Senioren-, Familien- oder Jugendtreff, beim Musizieren oder Sport. "Wir sind doch alle gleich."
Russen und Ukrainer in Würzburg: Einig, dass Putin der Aggressor ist
Wie ist das jetzt, während des Krieges in der Ukraine? Der 24. Februar 2022 - eine Zäsur? "Zum Glück nicht", sagt Gerchikov beim Treffen im Gemeindezentrum Shalom Europa. Egal, woher sie stammten, die allermeisten Gemeindemitglieder, gerade auch die älteren, seien sich einig: "Wir sind überzeugt, dass Putin der Aggressor ist, dass er für den Krieg verantwortlich und die Ukraine das unschuldige Opfer ist". Nur "sehr wenige" seien anderer Meinung, berichtet der stellvertretende Vorsitzende. Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinde gebe es glücklicherweise nicht.
So habe man nach Kriegsbeginn schnell entschieden, rund 200 Geflüchtete aus der Ukraine, "egal ob jüdisch oder nicht", in Würzburg zu unterstützen, ihnen Sprachunterricht anzubieten und sie zu den Aktivitäten der Gemeinde einzuladen. Außerdem habe man Spenden gesammelt und Hilfstransporte in die Ukraine organisiert. Hier zu helfen, sei für russisch- wie ukrainischstämmige Würzburgerinnen und Würzburger selbstverständlich, sagt Gerchikov: "Alle packen gemeinsam an."
Warum sich Gerchikov für Russland schämt
Jedes Jahr am 9. Mai, wenn die Völker der ehemaligen Sowjetunion der 24 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg gedenken und den Sieg über Deutschland feiern - "nein, nicht über Deutschland, sondern über den Nationalsozialismus", korrigiert der 85-Jährige - hat Marat Gerchikov eine Feierstunde im Zentrum Shalom Europa organisiert. Während der Pandemie sogar digital.
Doch im vergangenen Jahr ließ er sie wegen Putins Überfall ausfallen: "Ich schäme mich für Russland." Auch heuer finde die Gedenkfeier nicht statt, lediglich ein Konzert am 7. Mai soll es geben. "Die Zuhörer werden dann um Spenden gebeten - für die Ukrainehilfe."
Dass Wladimir Putin in seinen Reden heute die Ukraine mit Nazi-Deutschland vergleicht, sei eine "Propagandalüge", das ist "einfach falsch", stellt Gerchikov klar. Leider fielen in Russland immer noch viel zu viele Menschen darauf rein. Angesichts der Repressalien, mit denen Putin seine Kritiker verfolgt, könne er aber verstehen, dass Freunde in St. Petersburg, mit denen er regelmäßig telefoniert, Angst haben und schweigen, wenn das Gespräch auf den Krieg kommt: "Wir reden dann besser über andere Themen." Schwerer noch mit solchen Kontakten in die alte Heimat täten sich jüdische Familien, die Verwandte in der Ukraine und in Russland haben. "Sie sagen dann lieber nichts, um Konflikte zu vermeiden."
"Frieden ist erst, wenn die Ukraine gewonnen hat"
Was die Zukunft betrifft, ist Marat Gerchikov wenig optimistisch. Der Krieg werde noch, so schätzt er, zwei, drei Jahre dauern: "Frieden ist erst, wenn die Ukraine gewonnen hat und Putin und seine Umgebung für ihre Verbrechen vor Gericht kommen."