Die einen spannen ein Seil zwischen zwei Bäume und balancieren. Die anderen schwitzen sich durch ein bewegungsintensives Fitness-Programm: Wenn es wärmer wird, treffen sich im Würzburger Ringpark gerne Sportbegeisterte, um dort ihren Hobbies nachzugehen. Aber was treiben diese Menschen dort drüben? Kommen in Trainingsklamotten, stellen sich auf die Wiese – und bleiben dort stehen. Stehen tatsächlich nur, minutenlang! Erzählte man Passanten, dass die Stehenden gerade eine Grundübung der asiatischen Bewegungs-und Kampfkunst Taiji praktizieren, wäre wohl die Reaktion: ungläubiges Lachen.
Auf der Suche nach Körperbewusstsein
Was von außen aussieht, als wäre es nichts, ist, wenn man mitmacht, fordernd. „Wir sinken“, sagt Taiji-Lehrer Christian Heptner. Sinken bedeutet, im Körper Anspannung loszulassen. Unter der Schädeldecke. Im Kiefergelenk, das sich leicht öffnet. Im Nacken, der nach mehrstündiger Computerarbeit viel zu hart ist. In der Brust – nicht kämpferisch vorgereckt soll sie sein; nein, sie darf weich werden. Jetzt das Becken; steht es vielleicht zu weit vorne? Schiebt man es dahin zurück, wo es hingehört, nämlich über die Hüfte, spürt man erfreut, dass der Lendenwirbel sich weitet.
Und jetzt noch die Knie schmelzen lassen, ein bisschen wenigstens. So. Gesunken! Ganz unten angekommen! Der Taiji-Praktizierende hat das Gefühl, dass sein Körper dafür einen weiten Weg zurückgelegt hat. Aber mal angenommen, ein ungläubiger Passant stünde immer noch da und schaute. Er sähe kaum eine, vermutlich aber gar keine äußerliche Bewegung.
Taiji wirkt entspannend
Taiji erschließt sich nur langsam. Auch den Praktizierenden selbst. „Ich habe anfangs Taiji gemacht, weil ich was brauchte, um nach der Arbeit runterzukommen. Und mir Yoga nicht so entsprach“, erzählt eine Schülerin. Ihr gefielen die entspannenden Grundübungen, die unter anderem bewirken, dass der Atem tiefer, regelmäßiger und ruhiger wird. Ihr gefiel auch die 80-teilige Taiji-Form, bei der man aus der einen Haltung, etwa der des „Kranichs, der seine Flügel ausbreitet“, in eine andere Haltung, etwa die der „Peitsche“ gleitet.
Dass Taijii am Anfang überwiegend als „eine Art Entspannungsübung“ wahrgenommen werde, sei typisch, sagt Lehrer Christian Heptner. Neue Schüler meldeten sich oft gerade dann an, wenn sie in einer Lebenskrise steckten. Zu viel Druck im Beruf hätten. Oder Eheprobleme. Oder grade eine Trennung , einen Todesfall bewältigen müssten. Oder alles gleichzeitig. „Man sucht Mechanismen, um das auszugleichen“.
Mit Taiji der Lebenskrise begegnen
Christian Heptner unterrichtet mittlerweile seit rund 15 Jahren Taiji und nach seiner Wahrnehmung sind die Schüler jünger geworden. Früher seien die Teilnehmer überwiegend zwischen 40 und 60 Jahre alt gewesen; mittlerweile suchten oft auch Leute in den Zwanzigern oder Dreißigern durch Taiji einen Ausgleich im immer stressigeren Alltag. Aber die Klientel wird Heptner zufolge nicht nur jünger – sie wird auch männlicher. „Als ich angefangen habe zu unterrichten, waren Frauen deutlich in der Überzahl. Mittlerweile ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ausgeglichen.“
Die sanfte Kampfkunst
Wobei Männer, meint Heptner, dem Taiji vielleicht auch deshalb zuneigten, dieses Entspannungsprogramm gegen den drohenden Burnout vielleicht eher zuließen, weil Taiji eben eine Kampfkunst sei. Gelegentlich verweist Heptner in seinen Kursen auf Internet-Videos chinesischer Taiji-Meister. Man sieht darin alte, sehr alte Männer, die fest „in der Erde“ stehen und sich kaum oder nur sehr spärlich zu bewegen scheinen, während Dutzende junger Männer sie angreifen. Doch die jungen Angreifer kommen nicht weit. Sie prallen an dem Alten ab, finden sich rechts oder links neben ihm oder zu seinen Füßen wieder. Manchmal fliegen die Angreifer auch ein paar Meter. „Das ist bestimmt ein Fake!“, steht in den Internet-Kommentaren unterm Film. „Das ist wirklich möglich“, sagt Heptner.
Die Kraft des Gegners nutzen
Wie aber kann eine Bewegungsform, die so sanft und entspannend daherkommt, eine Kampfkunst sein? Wie erklärt man das? Das Geheimnis: „Der Taiji-Praktizierende nutzt die Kraft des anderen“, sagt Heptner. Wer den anderen aus der Balance bringen wolle, müsse zunächst zulassen, dass die Kraft des anderen auf ihn wirke. Müsse also diese Kraft annehmen. Dabei ganz gelöst und zentriert bleiben – um die Kraft dann abzulenken.
Dass ein Verteidiger ein um so leichteres Spiel mit dem Gegner hat, umso aggressiver dieser daherkommt, erfahren Würzburger Taiji-Schüler im Unterricht am eigenen Leib. Etwa bei einer Partner-Übung aus der Position, die sich poetisch „Der Fischer holt die Netze ein“ nennt. Es kommt der Angreifer auf seinen Partner zu. Und sanft, so sanft, dass der Angreifer nicht das Bedürfnis hat, sich dagegen zu wehren, umschließen die Hände des Verteidigers dessen Arm.
Keineswegs ist es so, dass der Verteidiger an diesem Angreiferarm jetzt zöge oder zerrte – das wäre kontraproduktiv. Denn dagegen würde der Angreifer ja Widerstand leisten. Stattdessen akzeptiert der Verteidiger den gegnerischen Vorwärts-Drive – und dann sinkt er, der Verteidiger. Er sinkt! Er nutzt also genau das, was er zuvor in den so harmlos anmutenden Basis-Übungen gelernt hat. Lässt die Brust weich werden und sinken, lässt die Hüftgelenke schmelzen und sinken und verlagert dadurch sein Gewicht vom vorderen aufs hintere Bein. Eine kleine Beckendrehung noch und der Angreifer stolpert, fliegt, donnert weg – je nach Intensität des Angriffs. Beherrschen sie die Technik, können kleine, schmale Frauen durchaus auch große, starke Männer wegrutschen lassen.
Taiji braucht jahrelange Übung
Doch der Weg zum Taiji-Fortgeschrittenen – von Meistern wollen wir gar nicht reden – ist weit. „Taiji ist in Würzburg beliebt, wird aber nicht so nachgefragt wie das deutlich beliebtere Yoga und ist nicht gerade ein Breitenphänomen“, sagt Sebastian Kestler-Joosten, stellvertretender Leiter der Würzburger Volkshochschule und zuständig für Gesundheitskurse. Warum nicht? „Weil Taiji sehr viel regelmäßiges Üben über Jahre verlangt“, sagt Kestler-Joosten. Es gebe Anfängerkurse, die gut liefen, aber auch Anfängerkurse mit deutlichem Teilnehmerschwund. Es gebe sehr stabile Fortgeschrittenenkurse, deren Zusammensetzung über die Jahre wohl gleich bleibe und Fortgeschrittenenkurse, die zerbröselten.
Der Weg ist das Ziel
Dass die Teilnehmerzahl gerade in den Anfängerkursen vom ersten bis zum letzten Kurstag deutlich schrumpft, hat auch Heptner erlebt. Tatsächlich stellen einige der Beginner fest, dass sie die langsamen Bewegungen nicht mögen, anderen ist die Partnerarbeit zuwider, die dritten mögen sich nicht drauf einlassen, dass es viele Jahre dauern kann, die Taiji-Form mit ihren bis zu 80 Positionen zu lernen. Drei bis fünf Jahre brauche es auch bei viel Engagement, bis die Taiji-Form so gut sitze, dass der Körper sie quasi automatisch ausführe, berichten Taiji-Praktizierende.
Und selbst wenn „die äußere Form läuft“, wie Heptner sich ausdrückt, ist der Praktizierende damit noch lange kein Könner. Stattdessen beginnt er wieder – mit einer neuen Phase. Sucht in der äußeren Form nach der inneren Form, strebt danach, dass seine Bewegungen verbunden sind, dass sie fließen, dass sein Geist dabei ruhig wird. Dort, wo es innerhalb der Form keine Absicht mehr gebe, sondern nur das Einlassen auf die augenblickliche Wahrnehmung, dort könne der Praktikzierende Erfahrungen machen, die einer Zen-Erfahrung gleichkämen, sagt Heptner. „Und Zen-Erfahrung ist Erleuchtung“.Die allerdings ist nicht allen geschenkt.
Aber wenn die Beweglichkeit der Gelenke sich bessert mit Taiji, der Atem ruhiger fließt, der Geist sich entspannt und man zumindest eine Ahnung davon bekommt, wie man eine gegnerische Kraft, die auf einen einwirkt, neutralisieren kann, dann ist das ja auch schon was wert.