Sophies (Name geändert) Mutter ist anders als andere Mütter, die die 13-Jährige kennt: Sie hat Depressionen, kann morgens oft nicht aufstehen, schläft sehr viel, kommt zu spät zu Verabredungen, scheint nie ganz da zu sein. Damit keiner etwas von ihrer Situation zu Hause mitbekommt, strengt sich Sophie sehr an: Sie holt regelmäßig ihren fünfjährigen Bruder Hannes vom Kindergarten ab, sorgt dafür, dass immer genug Essen im Kühlschrank ist und bereitet für die Familie Tütensuppen zu, wenn sonst niemand kocht. Sophies Vater ist nur selten zu Hause, und wenn er da ist, streiten die Eltern viel. Sophie hat oft das Gefühl, dass er nicht wirklich weiß, was zu Hause abläuft.
Für ihre Freundinnen hat Sophie außerhalb der Schule keine Zeit. Sie dürfen auch nicht zu ihr nach Hause kommen, denn die 13-Jährige hat Angst, sie könnten sehen, wie ihre Mutter tagsüber auf der Couch liegt, oder wie unaufgeräumt die Wohnung ist. In der Schule kommt Sophie gerade so zurecht, doch oft kann sie sich nicht konzentrieren. Ihr Alltag ist beherrscht von der Anstrengung, ihre Familie nach außen hin "normal" aussehen zu lassen.
Schon Fünfjährige können Young Carer sein
Sophie ist ein Young Carer: So nennt man Kinder und Jugendliche, die regelmäßig chronisch kranke – sei es körperlich, oder wie im Fall von Sophie, psychisch –, suchtkranke oder behinderte Familienmitglieder unterstützen oder pflegen und somit große Verantwortung in der Familie übernehmen. Laut gängiger Definition sind mit Young Carer Personen gemeint, die zwischen fünf und 18 Jahre alt sind. Für Eva Vierheilig, Ansprechpartnerin für Young Carer, von "Wirkommunal", einer Abteilung des Kommunalunternehmens des Landkreises Würzburg (KU), zählen aber auch über 18-Jährige dazu, die neben Ausbildung oder Studium Angehörige pflegen.
"Young Carer denken oft, sie sind allein", so Vierheilig. Doch in Deutschland gibt es rund 500.000 Young Carer; in Stadt und Landkreis Würzburg sind es laut einer Erhebung der Young Carer Hilfe zirka 1600 – mit einer Dunkelziffer, die weitaus höher sein dürfte. "Rein statistisch gibt es in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder, die betroffen sind", sagt Eva von Vietinghoff-Scheel, Vorständin des KU.
Dennoch werden Young Carer und die Belastungen, denen sie ausgesetzt sein können, wenn sie in die Pflege von Eltern oder nahen Verwandten eingebunden sind, von der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen. "Das klassische Pflege-Szenario – etwa eine 50-Jährige, die einen 80-Jährigen pflegt –, haben wir auf dem Schirm, dass auch Kinder und Jugendliche Erwachsene pflegen, dagegen kaum", so Vietinghoff-Scheel.
Young Carer wiederum wüssten häufig nichts von den Hilfsangeboten, die es für Pflegende gibt. Unterstützung bieten unter anderem Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien. In Würzburg sind dies z.B. der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), das Evangelische Beratungszentrum der Diakonie und die Erziehungsberatungsstelle der Stadt.
Über einen Flyer will man möglichst viele Young Carer erreichen
Um eine erste zentrale Anlaufstelle für Young Carer in der Region zu schaffen, hat man sich beim Kommunalunternehmen schon 2022 des Themas angenommen und eine Vernetzungsgruppe gegründet. Diese nimmt eine Art Lotsenfunktion ein: "An uns kann man sich wenden, um zu erfahren, wo man welche Hilfe bekommt", erklärt Linda Vierheilig. Sei es Hilfe durch ambulante Dienste oder eine Haushaltshilfe, die in die Familie kommt; finanzielle Unterstützung, zum Beispiel durch das bayerische Landespflegegeld ab Pflegegrad 2 des Angehörigen – oder auch Hilfe in Form eines Gesprächsangebots für Young Carer. "Woher soll etwa ein 13-Jähriger von all diesen Themen wissen und sie regeln?", fragt von Vietinghoff-Scheel.
Um möglichst viele Young Carer und Menschen, die mit ihnen zu tun haben, zu erreichen, hat man bei "Wirkommunal" nun einen Flyer zum Thema erstellt. "Wir möchten dich unterstützen, indem wir jederzeit ein offenes Ohr für dich oder für deine Familie haben - egal, ob du einfach reden möchtest oder ein bestimmtes Anliegen hast. Wir sind mit verschiedenen Anlaufstellen in Stadt und Landkreis Würzburg vernetzt und können dich bei Bedarf an die richtige Stelle weiterleiten", heißt es im Flyer. Diesen will man an den Schulen in Stadt und Landkreis verteilen und auch Lehrkräfte für das Thema sensibilisieren. Denn: Young Carer würden in ihrer normalen Entwicklung gehemmt, "ihre Freizeit und ihr Sozialleben sind stark beeinträchtigt", so Vierheilig. Außerdem können sie von Ausgrenzung und Mobbing betroffen sein.
Auch ambulante Pflegedienste können Multiplikatoren sein
Im vergangenen Jahr hat sich die Vernetzungsgruppe bereits bei Schulpsychologen vorgestellt, sich mit Schulberatungslehrkräften getroffen und Sozialdienste von Kliniken in der Region kontaktiert. Nun ist geplant, auch Jugendsozialarbeiter und ambulante Pflegedienste mit ins Boot zu holen. "Sie alle können Multiplikatoren sein", sagt Vietinghoff-Scheel.
Für das Sommersemester 2024 ist außerdem ein Praxisprojekt mit der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt (THWS) zum Thema Young Carer geplant. Dessen Ziel ist unter anderem, einen Handlungsleitfaden auch für andere Kommunen zu erstellen.
Ansprechpartnerin für Young Carers bei "Wirkommunal" des KU ist Linda Vierheilig, Tel.: (0931) 80442-83, E-Mail: linda.vierheilig@wirkommunal.de