An diesem Sonntag wählen die Polen ein neues Parlament. Ein Sieg der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) gilt als sicher. Dass die Nationalkonservativen um Jaroslaw Kaczynski im Nachbarland so beliebt sind, können viele politische Beobachter in Deutschland nicht recht verstehen. Marek Mlynarczyk (67) kennt Kaczynski und sein Umfeld aus den Anfängen der Gewerkschaft Solidarnosc in Danzig. 1981 flüchtete er als Student mit Informationen aus der polnischen Opposition nach Deutschland. 1983 als Asylbewerber anerkannt, lebt der Jurist seitdem in Würzburg. Zuletzt engagierte er sich dort für die Initiative "Aufstehen".
Die Umfragen sehen die PiS bei 45 Prozent. Ihr Wahlsieg gilt als sicher. Warum ist die Partei so erfolgreich?
Marek Mlynarczyk: Das soziale Programm hat viele Polen überzeugt. Die PiS hat ihre Versprechungen aus dem letzten Wahlkampf erfüllt: Erstmals zahlt der Staat ein Kindergeld in Höhe von 125 Euro pro Kind und Monat. Außerdem gibt es 80 Euro für jedes Kind zu Beginn des Schuljahrs. Senioren bekommen eine 13. Rentenzahlung. Junge Leute unter 26 Jahren sind von allen Steuern befreit. Das überzeugt vor allem die kleinen Leute. Ich würde die PiS deshalb auch nicht als nationalkonservative Partei bezeichnen, sondern als sozialkonservative.
Woher kommt das Geld für die Wohltaten?
Mlynarczyk: Polen ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Land. Es geht einen ähnlichen Weg wie Bayern, vom Agrarstaat zu einem Hochtechnologie-Standort. Aktuell haben wir 4,5 Prozent Wirtschaftswachstum, unter vier Prozent Arbeitslosigkeit, das ist eine Erfolgsgeschichte. Und die Staatsverschuldung ist auch geringer als in Deutschland.
Bei diesen Zahlen hat die Opposition keine Chance?
Mlynarczyk: Die Oppositionsparteien sind sich untereinander selten einig. Was die Sozialleistungen betrifft, ahmen viele im Wahlkampf nur die PiS nach. Dabei haben sie im Sejm, dem Parlament, immer nur Fundamentalopposition gegen die Regierung betrieben. Das kommt bei vielen Menschen gerade auf dem Land nicht gut an.
Diese Spaltung zwischen der konservativen, sehr katholischen Landbevölkerung und dem liberalen, europafreundlichen Bürgertum in den Städten, wird von der PiS doch befördert. Warum?
Mlynarczyk: Ich würde sagen, die Verrohrung der Sprache, der politischen Debatte geht eher von der anderen Seite aus, den Großstadt-Eliten, sogenannten Künstlern. Sie sind es, die die einfachen Leute, die sich jetzt dank der PiS auch mal etwas leisten können, als Bauern, als Unterschicht von oben herab verleumden.
Aber haben sie nicht recht mit ihren Vorwürfen, Lech Kaczynski und die PiS gefährdeten mit ihrer Justizreform und der Entlassung kritischer Journalisten beim staatlichen Fernsehen die Demokratie?
Mlynarczyk: Das staatliche Fernsehen war noch nie unabhängig. Früher hat es Donald Tusk und seine Freunde unterstützt, jetzt eben die PiS. Mir ist das auch zu viel Propaganda, aber es gibt Alternativen. Die Demokratie ist nicht in Gefahr. Bei der Justizreform muss man wissen, dass viele Richter, die entlassen wurden, noch in kommunistischer Zeit eingesetzt wurden. Es gab in Polen keine Neuordnung der Justiz wie in Ostdeutschland.
Die EU-Kommission hat Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen geäußert.
Mlynarczyk: Die Regierung hat auch Fehler gemacht. Allerdings ist der westliche Blick auch nicht der einzige. Ich habe mit Interesse gelesen, dass Ursula von der Leyen, die designierte Präsidentin der EU-Kommission, mehr Realismus beim Umgang mit Polen gefordert hat. Da scheint sich der Ton zu ändern.
Aber die PiS setzt doch voll auf Nationalismus. Unter anderem nimmt das Land keine Flüchtlinge auf. Das widerspricht allen europäischen Werten.
Mlynarczyk: Wer Brüssel kritisiert, ist noch lange kein Antieuropäer. Die Polen wissen, was sie an Europa haben. Aber es kann nicht sein, dass etwa die Hektar-Zahlungen an die Bauern dort deutlich geringer ausfallen als an die Landwirte in Frankreich oder Deutschland. Und man darf im Westen nicht vergessen, dass in Polen drei Millionen Ukrainer leben, darunter 800 000 mit Flüchtlingsstatus.
Droht Polen ein autoritärer Staat zu werden wie Ungarn?
Mlynarczyk: Nein, nein. Kaczynski ist anders als Viktor Orban. Der ungarische Ministerpräsident ist ein Wendehals, ein früherer Kommunist, der heute dem Neoliberalismus anhängt und mit seiner Politik die eigene Familie bereichert. Kaczynski war immer schon Antikommunist und er hat eine soziale Ader. Außerdem weiß er genau, dass sie Polen sehr rebellisch sein können, wenn ihre Freiheit bedroht ist.
Welche Rolle spielt die katholische Kirche?
Mlynarczyk: Eine wichtige. Man kann die Kirche kritisieren für den Umgang mit Kindesmissbrauch oder Homophobie. Entscheidend ist der christliche Glaube, der die Geschichte dieses Landes mehr als alles andere geprägt hat. Ohne diesen Glauben hätten die Polen von 1795 bis 1918 nicht ohne eigenen Staat überlebt. Und auch im Kommunismus wäre der Widerstand ohne Christentum nicht denkbar gewesen. Der Glaube gehört zum Alltag.
Zuletzt sind Forderungen nach 840 Milliarden Euro Reparationen an Deutschland wegen der Zerstörungen und Verbrechen zur NS-Zeit laut geworden. Sind diese nicht durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze abgegolten?
Mlynarczyk: Ich finde, man sollte sich auf eine Lösung einigen, die in die Zukunft weist. Denkbar wäre eine Stiftung, die junge Polen und Deutsche zusammenbringt, Stipendien vergibt. Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass Nazi-Deutschland sechs Millionen Polen, darunter drei Millionen Juden, das Leben gekostet hat. Das waren fast 20 Prozent der Bevölkerung.