Heinrich von Stühlingen, der 27. Bischof von Würzburg, herrscht über sein Reich, das Hochstift, wie ein weltlicher Herr, aber nirgendwo steht geschrieben, dass er das darf. Er braucht Rechtssicherheit. Ambitioniert ist er auch: Herzog von Ostfranken will er werden, und Ostfranken ist groß; Franken, Hessen, Teile des heutigen Baden-Württembergs, Thüringens und Rheinland-Pfalz‘ gehören dazu.
Heinrich tut, was ein Mann tun muss, der Rechte haben will, die ihm nicht zustehen, und Länder, die ihm nicht gehören: Er betrügt. Er lässt Urkunden fälschen, Beweise dafür, dass dem Bistum längst gehört, was er begehrt, und schickt sie Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, damit der sie bestätige.
80 Kilometer weiter östlich herrscht der zehnte Bischof von Bamberg, Eberhard von Otelingen, und will nicht hinnehmen, dass der Würzburger Kollege sein Bistum einsackt. Er hält dagegen.
Beide Bischöfe spielen wichtige Rollen im mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Heinrich ist mehr als Diplomat in Barbarossas Diensten unterwegs als im heimischen Bistum. Eberhard ist einer der Organisatoren des zweiten Kreuzzugs, ein Königstreuer. Doch Heinrich erfährt nicht mehr, ob seine Gaunerei aufgeht. Er stirbt 1165, da hat Barbarossa noch nicht entschieden. Sein Nachfolger Herold von Höchheim, der 28. Bischof von Würzburg, führt den Betrug fort. Die Würzburger wollen den Bambergern nehmen, was sie ihnen 158 Jahre zuvor geben mussten.
Im Jahr 1007 beschloss die Reichssynode – acht Erzbischöfe, 27 Bischöfe – die Gründung des Bistums Bamberg, bestehend aus Ländereien der Bistümer Würzburg und Eichstätt. Drahtzieher war König Heinrich II., Kaiser ab 1014, in Bamberg genannt „der Fromme“, heiliggesprochen 1146.
Im Jahr 1007 hieß auch Würzburgs Bischof Heinrich, und der war seinem König wohl nicht allzu gram. Die Entschädigung war ordentlich. Die Heinriche waren einander gewogen aus gemeinsamen Kämpfen. Im Jahr 1003 waren sie gegen ihren Namensvetter, den Markgrafen Heinrich von Schweinfurt, in den Krieg geritten. Der fromme Kaiser erwies sich in vielen Kriegen als geübter Menschenschlächter, und Bischöfe waren nicht weniger kriegerische Herren.
Im Mittelalter ist Würzburg eine bedeutende Stadt im Heiligen Römischen Reich, Schauplatz von Reichstagen und Herberge der Kaiser. Ab 1007 aber holt Bamberg auf im Städtevergleich. 39 Jahre ist das Bistum alt, als drei Päpste zur selben Zeit amtieren und das Chaos groß ist. König Heinrich III. – „Heinrich“ war ein beliebter Name in jenen Zeiten – setzt die unseligen Drei ab und macht Suitger, den zweiten Bischof von Bamberg, zum Papst. Suitger nimmt den Namen Clemens II. an.
Er stirbt 1047, nach zehn Monaten als Pontifex. Die Bamberger begruben ihren Papst in ihrem Dom, unter einem Dach mit ihrem 1026 gestorbenen heiligen Kaiser Heinrich II. und seiner Gattin Kunigunde, auch sie eine Heiliggesprochene. Das Papstgrab ist das einzige nördlich der Alpen, und in keinem Dom der christlichen Welt liegt ein heiliges Kaiserpaar bestattet. In der Krypta liegt schließlich noch ein König, Konrad III. Die glaubens- und identitätsstiftende Wirkung dieser Gräber strahlt bis heute über die Nachbarbistümer hinaus. 1818 erhebt der Vatikan das Bistum Bamberg zum Erzbistum, mit den Bistümern Würzburg, Eichstätt und Speyer als untergeordneten, sogenannten Suffraganbistümern.
Das Bistum Würzburg ist über 250 Jahre älter als das bambergische. Ein Engländer, Missionar Bonifatius (Geburtsname Wynfreth) richtet es 742 ein, mit einem Engländer, dem Mönch Burkard (Burgheard), als erstem Bischof. Der besorgt nach zehn Jahren im Amt den Auftakt zu einer Geschichte, die die Entwicklung des Bistums dramatisch befördern soll: die Kilianslegende.
Sie wird um 840 niedergeschrieben, als Passio minor (kleine Leidensgeschichte). Um 880 erscheint sie als umfangreichere Passio maior. Sie handelt von einem Bischof mit Namen Kilian. Die Autoren beider Passios stellen ihn als Schotten vor, der mit seinen Gefährten Kolonat und Totnan in der Würzburger Gegend missioniert. Die Meinung, Kilian sei Ire, ist insofern legitim, als Irland zu jener Zeit zu Schottland zählte.
Kilian bekehrt Herzog Gozbert und bekommt Probleme mit Herzogin Gailana. Gozberts Gattin war in erster Ehe mit seinem verstorbenen Bruder verheiratet. Der damaligen christlichen Lehre zufolge ist die Schwagerehe Sünde. Kilian fordert die Scheidung. Der Herzog ist willig, die Herzogin nicht. Geilana lässt die Missionare enthaupten und samt Evangeliar verscharren.
Nur eine Angabe in den Passios lässt eine ungefähre zeitliche Einordnung der Ereignisse zu: die Erwähnung einer Reise Kilians nach Rom, zu Papst Konon, der 686 ins Amt kam und nach elf Monaten starb.
Bischof Burkard greift im Jahr 752 ein. Erzählt wird, Pferdeknechte hätten, wo heute die Neumünsterkirche steht, drei verweste Leichname entdeckt, bei ihnen das Evangeliar, trotz großer Nässe unbeschädigt. Ein Priester identifiziert die Gebeine als jene der drei Märtyrer. Burkard besorgt sofort die Heiligsprechung des Kilian. Er verschafft seinem Bistum eine herausragende Stellung im Fränkischen Reich; das Märtyrergrab ist das erste rechts des Rheins.
Wallfahrt nach Würzburg
König Karl, der spätere Kaiser Karl der Große, ist 788 dabei, als die Gebeine von der Marienburg in den damaligen Dom gebracht werden. Er ruft die Gläubigen zur Wallfahrt nach Würzburg auf. Das Grab der Märtyrer ist konstituierender Bestandteil des Bistums. Mehr noch: Die Kiliansgeschichte befördert die christliche Identität des Frankenreichs.
Der Historiker Dr. Johannes Erichsen, bis 2011 Präsident der Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung, schreibt im Katalog zur Kiliansausstellung 1989, in der Heiligsprechung des Iren „äußerte sich wohl nicht zuletzt der missionarische Geist jener Glaubensverkünder und Kirchenerneuerer, der die karolingische Zeit so wesentlich mitgeprägt hat“. Er hält die „Erhebung der irischen Missionare zu Patronen des Grenzlandes gegen die Heiden“ für programmatisch: „Der unbedingte, das eigene Leben nicht schonende Einsatz für die Ausbreitung des Evangeliums wurde auf das Banner der Würzburger Kirche geschrieben.“
Die Kilianslegende ist Fiktion. Erik Soder von Güldenstubbe, der frühere Leiter des Würzburger Diözesan-Archivs, verweist die Mordgeschichte um die drei „Frankenapostel“ ins Reich der frommen Märchen. Geilana zum Beispiel, eine zentrale Gestalt der Legende, sei „historisch nicht greifbar“, also eine Erfindung. Der Bonner Theologe und Kirchenhistoriker Prof. Dr. Knut Schäferdiek entschlüsselt die Passios als Nachbildungen früherer Legenden und der Geschichte von Johannes dem Täufer. Erichsen stellt fest, die Passios seien lediglich Glaubenszeugnisse und „Dokumente der Verehrung des Heiligen nach der Erhebung seiner Gebeine“. Erst die „Konstanz der Glaubensgewissheit“ führe „zum Wissen um die historische Gestalt“.
Historiker vermuten, dass Bischof Burkard den Fund der vermeintlichen Märtyrerbeine inszeniert hat, aus religions- und machtpolitischem Kalkül. Schon die alten Griechen nutzten die identitätsbildende Kraft von Mythen zur Festigung ihrer Staatswesen. Der Würzburger Archäologe Prof. Dr. Ulrich Sinn etwa berichtet, die Sage vom gewaltigen Theseus sei eine staatstragende Entwicklung Athens, geschaffen als Gegengewicht zum mächtigen Herakles-Mythos der rivalisierenden Spartaner.
Weniger Erfolg als Burkard haben Heinrich, der 27., und Herold, der 28. Bischof von Würzburg, mit ihrem Betrugsversuch. Kaiser Barbarossa gewährt den Würzburger Bischöfen zwar fortan die Rechte von Landesherren, aber nicht für Ostfranken, nur für ein Gebiet in der ungefähren Größe des heutigen Unterfrankens. Barbarossas Urkunde von 1168, mit Gold versiegelt, geht als „Güldene Freiheit“ in Würzburgs Geschichte ein.
Das Bistum hat sich nicht mit Barbarossas Entscheidung arrangiert. An der Fassade des Neumünsters steht trotzig in lateinischer Sprache, sie sei dem heiligen Kilian und seinen Gefährten geweiht im Jahre 1716 von Johann Philipp, Bischof von Würzburg, „F.O.D.“. Die Abkürzung steht für Franconiae Orientalis Dux – Herzog von Ostfranken.